Die postmodernen Grenzen der postmodernen Grenzen
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Bewertung:
Dieser Roman ist ein ungezogenes Kind der Postmoderne, das mit allen Mitteln gegen seine Eltern rebelliert. Der Autor glaubt, dass die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt sind. Kunst wird zur Welt und Welt wird zur Kunst. Andererseits verspottet er diesen postmodernen Gestus, denn dem Roman ist die biedere realistische Ambition eingeschrieben, mit der Sprache über die Sprache hinaus zu gelangen. Beides kann nicht gelingen. Es ist dieser literarische Generationenkonflikt, der die Lektüre dieses Romans zu einem diebischen Vergnügen macht.
Ein Roman wie 22:04 lässt sich schwer nacherzählen. Zahlreich sind die Doppeldeutigkeiten und Anspielungen. Ganz der voraussetzungsreichen Postmoderne verpflichtet, webt der Autor ein vielschichtiges Muster der Gegenwart. Man könnte Ben Lerners Konzept mit Jean-Paul Sartre so formulieren: Wenn Prosa den Versuch darstellt, die Sprache als Fensterscheibe zu betrachten, die uns den Blick auf die Welt öffnet, während die Poesie unsere Aufmerksamkeit auf die Schönheit des Fensterglases selbst lenkt, dann lässt sich bei Lerner der Versuch erkennen, seinen Roman als Vexierscheibe zu gestalten, die zugleich Fenster und Spiegelbild ist.
Spricht man von der Fensterscheibe, durch die sich die Welt zeigt, so kann gesagt werden: Lerner erzählt die Geschichte eines Brooklyner Autors, der nach dem Erfolg seines Erstlingsromans im Begriff ist, das mühevolle zweite Werk zu schreiben. Er leidet am Marfan-Syndrom, einer Bindegewebskrankheit, weshalb er stündlich darauf gefasst ist, dass seine Aorta reißt und er das Zeitliche segnet. Die Episoden seiner Existenz sind grotesk. Etwa, wenn er im „Mastorbatorium“ einer Klinik weilt, um einer Freundin, mit der er keine erotische Beziehung pflegt, vor dem Ableben ihrer Mutter noch ein Enkelkind zu bescheren. Seine Odyssee führt ihn durch ein mysteriöses und zugleich banales New York. Dabei schlägt der Autor jeden Versuch in den Wind, diese wahrhaft epische Metropole zu einem weiteren Stauraum postmoderner Bedeutsamkeiten aufzuladen.
Zugegeben: Wenn die urbane Realität in diesem Roman als groteske Fiktion erscheint, dann ist eine solche Auffassung heute nicht mehr originell. Doch Lerner gelingt es, mit den Mitteln der postmodernen Schreibweise eine amüsante Geschichte zu erzählen, die nichts Geringeres bietet als die „wesentlichen Dinge“. Mehr sollte man von einem Text wirklich nicht erwarten.
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Jo Balle - 3. März 2016 ID 9178
Ben Lerner | 22:04
Gebunden, 320 Seiten
19,95 EUR
Rowohlt Verlag, 2016
ISBN 9783498039431
Weitere Infos siehe auch: http://www.rowohlt.de/hardcover/ben-lerner-22-04.html
Post an Dr. Johannes Balle
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