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Rezension

Lesen im Urlaub >>> Ross Adam, "Mister Peanut"





Daran, dass sich alle glücklichen Familien ähnlich sind, wohingegen jede unglückliche Familie einzigartige Merkmale aufweist, dachte ich, Tolstoi sei Dank, während der Lektüre dieses tollkühnen Romans. Und daran, dass der Erfinder der Anna Karenina, jener unglücklichen russischen Schönheit mit den unwiderstehlichen Tartarenaugen, die sich vergeblich auf der Suche nach Liebe befindet, wohl in all den Jahren des Schreibens wie ein stummes Ausrufezeichen im Gedächtnis des Amerikaners Adam Ross gearbeitet haben muss. Denn anders ist es nicht zu denken, dass der Roman Mister Peanut so unerschrocken realistisch die Hölle der Ehe beschreibt. Man möchte sagen: Unerschrocken, bis sich der Spaten des letzten Mitleids am harten Felsen der menschlichen Niedertracht biegt. Adam Ross gelingt damit keine Kleinigkeit, sondern der Entwurf einer Gegenutopie, die sich als paradiesisches Unglück der ehelichen Zweisamkeit tarnt. Aber der Reihe nach! Schließlich wollen wir nicht jene diabolischen Verwirrungen nachahmen, die der listige Autor seinem empörenden und schamlosen und ganz und gar hinreißenden und explosivem Buch eingebrannt hat - als wäre es sein Kainszeichen.

Natürlich sind es dreizehn Ehejahre! Doch David Pepin kann sich tatsächlich kein glückliches Leben mehr vorstellen ohne Alice, die Frau an seiner Seite. Schwächelnde Fantasie, mag man unken. Mitnichten: Vielmehr die Abgründe eines unersättlichen Liebeswunsches. Ross erzählt vom Wunderland der Ehe, dem Land jenseits der Spiegel und Alice, die tote Frau, ist der dramaturgische Dreh und Angelpunkt seines postmodernen Minnesangs. Denn auch wenn Pepin seine Seele für Alice geben würde – und es tatsächlich tun wird wie Faust seine Seele dem Mephisto einst verkaufte -, so suchen ihn dennoch am Ende die Rachegöttinnen heim. Und darin, in der Beschreibung jener lüsternen Heimsuchungen, jener bizarren Seelenstürme und vermaledeiten Phantome, ist Adam Ross ein veritabler Meister, vor dem selbst die „Sturmhöhen“ der angelsächsischen Literatur vor Neid oder Schreck erblassen würden.

Pepins Fantasien und sein durch und durch widersprüchlicher Charakter stellen keine pathologischen Abweichung dar – im Gegenteil: Wie der Urvater der Neuzeit, Francesco Petrarca, einst erkannte, ist jene unausrottbare und provokante und ekelerregende Widersprüchlichkeit der wahre Name des Humanen. Als Pepin im Strom seiner dunkel wütenden Begierde, die darin bestand, seine geliebte Frau endlich tot zu sehen, allmählich schon zu ertrinken glaubt, da findet er die tote Alice eines Tages in der realen Welt auf dem Küchentisch seiner New Yorker Wohnung. Er, der von ihrem Tod wieder und wieder träumen musste und doch kein Leben außerhalb ihrer Liebe zu denken wagte, muss nun nicht nur mit ihrer endgültigen Abwesenheit fertig werden, sondern wird von unserem listigen Autor auch noch zum Hauptverdächtigen befördert: Faktisch gesehen ist Pepins Frau einem allergischen Schock erlegen – nach dem Verzehr von Erdnüssen, jenen tödlichen, scheinbar nichtssagenden „Peanuts“, die dem unbekannten Herrn im Romantitel den Namen verliehen. Was für ein luziferischer Autor!

War es also Mord, Selbstmord gar - oder ganz einfach ein dummer Unfall? Pepin jedenfalls fühlt sich schuldig, denn in seiner Welt gibt es keinen Unterschied zwischen der Realität der Sinne und jener der Seele. Aber erkläre das einmal einem New Yorker Cop! Die zwei Männer, die Pepin verhören: Sheppard und Hastroll mit Namen, sind ihrerseits echte Kenner der ehelichen Materie. Ross will von Anfang an auch ihre Geschichte erzählen und dieser kindliche Wunsch drängt so ungestüm in die Fäden der Pepingeschichte ein, dass deutsche Lektoren, die bekanntermaßen die Ordnung des Erzählens mehr als alles andere lieben, mit unerbittlichen Rotstiften literarische Strukturreformen eingefordert und damit wohl ein geniales Buch verhindert hätten. Denn gerade die irrationale und motivduplizierende Dynamisierung der Plotebenen macht dieses Erzählwerk zu einem, das zu Recht im Sinne Petrarcas die ganze irrationale, verbrecherische und chaotische und wunderbare Seele darzustellen vermag. Und dabei muss Ross den Vergleich mit den Granden des Eheromans keineswegs scheuen. Auch wenn es, gemessen an dem, was möglich gewesen wäre, vielleicht doch ein wenig zu realistisch für unseren Geschmack geraten ist. Ein Körnchen Irrealismus in der Darstellung hätte diesem Erzeugnis eines hartgesottenen Realisten gute Dienste erwiesen.

Während Pepin als Hauptverdächtiger gilt, erzählt Ross also parallel die Geschichte der beiden Männer, die das Verhör leiten: Hastrolls Frau Hannah bewegt sich seit Monaten nicht mehr aus ihren eigenen vier Wänden. Sie verlässt nicht einmal ihr Bett, es ist ihr einziger Aufenthaltsort. Alles, was um sie herum geschieht, ist ihr dabei völlig gleichgültig und ihr Ehemann Hastroll verzweifelt an manchen Tagen fast an sich oder ihr oder an beiden. Sam Sheppard indessen ist ein Hallodrie vor dem Herrn, aber einer der gefährlichen Sorte. Er betrog fortwährend seine frühere Frau sowie seine Geliebte Susan. Sheppard fehlt gänzlich das Gegengift zu seinen gemeinen Trieben und als er endlich zu erkennen beginnt, was er zerstört hat, wird es zu spät sein. Doch auch das wird er nur dazu nutzen, seine Begierden aufs Neue zu rechtfertigen. In Sheppard erkennen wir das hedonistische Prinzip als das radikal Böse.

Welche Spiegel und Zerrspiegel auch immer mit dieser maskulinen Trias oder Trinität inszeniert werden, wie diese drei Männer sich ergänzen, stören, gegenseitig aufheben in ihrem brutalen und besinnungslosen Tanz um das goldenes Kalb namens Frau – das alles ist so köstlich und amüsant wie es tiefsinnig und mörderisch ist. Eine Deutung des Endes sollte man sich an dieser Stelle versagen. Denn Adam eröffnet uns, nüchtern betrachtet, eine Reihe von Möglichkeiten, wie sich die Fäden dieser Geschichte zusammenfügen könnten - auch wenn wohl jeder Leser seine eigene Version der ehelichen Tragödie darin entdecken wird.

Jo Balle - 3. Mai 2012
ID 5905
Ross Adam - "Mister Peanut"
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Roman
496 S., geb.
€ 22,95 [D], € 23,60 [A], sFr 32,90
ISBN: 9783492052924
Erschienen bei Piper, im Februar 2011



Siehe auch:
http://www.piper-verlag.de


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