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Rezension

Yehuda Bauer | Der Tod des Schtetls

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2013
ISBN 978-3-633-54253-6




Vom Aufbegehren und vom Wegsehen

Zwischen dem „Fiddler on the Roof“ und dem Zweiten Weltkrieg klafft eine Leerstelle: Gar zu wenig ist über das jüdische Kleinstadtleben im Vorkriegspolen bekannt. Jüngst erschien im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag eine Studie, die vor allem deswegen überfällig war, weil sie dem Leser völlig neue Einblicke in dieses Vakuum eröffnet. Die Richtung, in die sich die Holocaust-Forschung und neuere Geschichtswissenschaft bewegt, gibt der bedeutende Historiker und Holocaustforscher Yehuda Bauer nicht erst mit seiner neuesten Publikation Der Tod des Schtetls vor. Der Trend ist klar: Weg vom eindimensionalen Bearbeiten der Täter-Opfer-Achse, hin zu einer radikalen Auseinandersetzung mit dem Gros der nicht-jüdischen Bevölkerung, das selten zur Gänze „unbeteiligt“ war. Tatsächlich erweist sich die Analyse der Beziehungen zwischen Juden und ihren Nachbarn - bystanders wie auch Helfern - als so komplex wie spannend.

Der Tod des Schtetls schließt thematisch an das Buch Jüdische Reaktionen auf den Holocaust an, das fast dreißig Jahre nach Veröffentlichung der hebräischen Erstausgabe im Jahr 2012 erstmalig auf Deutsch erschien.

Yehuda Bauer gibt einen bewegenden Einblick in das jüdische Leben im Polen der Zwischenkriegszeit, um schließlich die Schtetlech in der Kresy der Dreißigerjahre und der Jahre der Vernichtung in den Fokus zu rücken. Bei der Kresy, die der Autor als „Zentrum des traditionellen jüdischen Lebens“ beschreibt, handelt es sich um das ostpolnische „Grenzland“, zu dem Nordostpolen, Wolhynien und Ostgalizien gehören. Bauers Blick auf das Heimatland des Chassidismus und den Herkunftsort zahlreicher herausragender Persönlichkeiten ist allerdings kein verklärter – sein Schtetl hat nur wenig mit dem anheimelnden Folklorismus aus Anatevka zu tun.

Vielmehr erfährt der Leser, wie sich der Begriff des Schtetls überhaupt definiert, in welchen politischen und religiösen Verbänden man sich organisierte, und vor allem: wie man als Jude in der Kresy zunächst der sowjetischen Besatzung und schließlich der deutschen Vernichtung begegnete.

Yehuda Bauer, dessen eigene Familie gerade noch rechtzeitig aus Prag nach Palästina emigrieren konnte, scheut sich nicht, Dinge zurechtzurücken, die in der Wahrnehmung vieler Historiker als Faktum gelten. In Der Tod des Schtetls fördert er durch akribische Recherche Details und Wahrheiten zutage, die von anderen Forschern entweder übersehen oder gar vernachlässigt wurden. Immer wieder kommt der Autor auf die Ausnahmesituation in einer multiethnischen Region zu sprechen, in der Polen, Weißrussen, Ukrainer und Juden teils auf engem Raum zusammenlebten. Hier ist es Bauers großes Verdienst, nicht der Versuchung der Schwarzweißmalerei zu erliegen. Wo passend, lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen und führt Beispiele von ambivalentem „nachbarschaftlichem“ Verhalten ins Feld, um vorschnelle Urteile gar nicht erst entstehen zu lassen. Aber auch, um zu zeigen: Es gibt oft noch nicht einmal eine klare Grenze zwischen Gut und Böse. Der Blick des Historikers erlaubt es Bauer nicht, sich zu Pauschalisierungen verleiten zu lassen, die ihm zufolge bei der Verschriftlichung von Einzelschicksalen gelegentlich als Fazit dastehen. Für ihn liegt die Problematik teils schlichtweg darin, dass den Verfassern der Panoramablick auf den historisch-gesellschaftlichen Kontext fehlt – ohne dass er damit den Wert der persönlichen Einzelberichte herabsetzt.

Besonderes Augenmerk legt Yehuda Bauer außerdem auf die Formen, die jüdischer Widerstand in der Kresy annahm, im Auge des Zyklons: Diese spezielle Form der Gegenwehr belegt er mit dem hebräischen Begriff Amida, was so viel bedeutet wie (Wider-)Stehen, Standhaftigkeit.

Bauers Haltung zum jüdischen Widerstand im deutschen Machtbereich ist insofern revolutionär, als er den Begriff weiter fasst als andere und somit der weitverbreiteten Auffassung widerspricht, sämtliche Juden Europas hätten sich in ihr Schicksal gefügt und wie die sprichwörtlichen Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Mit seiner Fokussierung auf die Amida vollzieht er eine längst überfällige Verschiebung des Blickwinkels, indem er die verfolgten europäischen Juden zu Subjekten werden lässt, die nicht nur ohnmächtige Opfer von Schmach und Terror waren, sondern aktiv Überlebensstrategien entwickelten und mehr als nur gewaltfreien Widerstand leisteten. Es ist der Versuch des fast Unmöglichen: Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Gruppe europäischer Juden, welche die geringste Überlebenschance hatte. Von ehemals 1,3 Millionen jüdischen Menschen in der Kresy überlebten 2 Prozent.

Bauers Studie beginnt jedoch nicht mit dem Nazi-Terror. In klarer Sprache vermittelt er die Ergebnisse seiner Analyse des jüdischen Lebens in der Kresy der Dreißiger. Er spricht von den Kräften, die von außen zersetzend auf die aus der Zeit gefallenen Schtetlech einwirkten und schließlich zu ihrem Ende führten: zunächst die kulturelle und geistige Abtötung durch die Sowjets, schließlich die physische Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Hervorragend, wie er Kausalitätsketten freilegt, die ohne Weiteres für den geschichtlich interessierten Laien nicht direkt erkennbar sind: Wer oder was bereitete die polnischen Juden auf den Aufstand im Warschauer Ghetto vor? Weshalb war der bewaffnete Widerstand gerade in der Kresy verbreitet? Was hatte der Mangel an Nationalismus mit der Einstellung vieler Weißrussen gegenüber ihren jüdischen Nachbarn zu tun?

Bauer greift viele Fäden auf, um sie zu einem lebendigen historisch-narrativen Flickenteppich zu verweben, der allein schon wegen der geringen Anzahl an Überlebenden und somit auch Zeugnisberichten lückenhaft sein muss. Hier liest man die Geschichte eines Partisanen, der sein Vertrauen in den Falschen setzte; dort das Schicksals eines Gemeindevorstands, der lieber den Freitod wählt, als in den Stand des Judenratsvorsitzenden erhoben zu werden.

So reißt der Historiker viele Themen an, die jedes für sich genommen mehr Raum verdient hätten, darunter nicht nur der Gewissenskonflikt bei Mitgliedern der Judenräte, sondern vor allem auch die Untergrundaktivitäten in der sowjetisch besetzten Kresy - und die Frage, weshalb in Schtetlech selten Ghettos errichtet wurden.

Der Tod des Schtetls ist ein wichtiges, ein erhellendes Buch – gerade auch für jene, die glauben, bereits „alles gehört zu haben“. Wenn es in ihm eine Schwachstelle gibt, so liegt sie allenfalls in der Fülle an Fragen, die Bauer einleitend stellt, und die er in seiner Abhandlung durchaus vollständig, wenn auch nicht in ganzer Breite beantwortet. Seine Studie ragt jedoch allein schon wegen seines ungewöhnlichen Blickwinkels, der detaillierten Spurensuche und des frischen Zugangs zu wenig beachteten Themen aus dem Korpus der Shoah-Literatur heraus.


Bewertung:    


Jaleh Ojan - 11. Dezember 2013
ID 7453
Yehuda Bauer | Der Tod des Schtetls
Gebunden, 364 Seiten
D 24,95 € | A 25,70 € | CH 35,50 sFr
Jüdischer Verlag, 2013
ISBN 978-3-633-54253-6



Siehe auch:
http://www.suhrkamp.de/buecher/der_tod_des_schtetls-yehuda_bauer_54253.html


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