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Rezension

Thomas Knauf - Mord hält jung

Ein Fall für Privatdetektiv John Klein
be.bra Verlag, 2013
ISBN 978-3-89809-532-7




Unerwünschte Sterbehilfe

Die wenigsten Toten bleiben im Gedächtnis der Nachwelt so jung wie Helena. Die meisten können bereits in der postumen Existenzform Alter nicht mehr damit rechnen, dass das jugendliche Interieur ihrer inneren Erscheinung ausstrahlt. Edith Jacobi gehört zu den meisten und auch wieder nicht. Die Chemikerin im fortgeschrittenen Ruhestand hält sich gerade. Deshalb beteiligt Edith sich auch nicht „an dem Theater der Grausamkeit“ in ihrem Heim. Antonin Artaud brachte das Wort auf, Thomas Knauf bringt es in seiner Räuberpistole Mord hält jung wieder in Umlauf. Der Kiez-Krimi spielt im berühmtesten Stadtteil Deutschlands. Eine lyrische Avantgarde heißt nach ihm. In den Neunzigern verlor der Prenzlauer Berg seinen Ruinencharme. Der Berliner Höhenzug wurde zum Brutplatz der Besserverdienenden. An manchen Ecken sieht er aus wie eine Kranichkolonie. Die Kraniche liefern sich einen Verdrängungswettbewerb, bei dem einheimische Arten zu erbitterten Zaunkönigen werden. Zu einem Milieu, das in seinem angestammten Verbreitungsgebiet gegen die Mauer gefahren wird. Diese Auseinandersetzung grundiert den Roman. Der Autor versteht sich als Anwalt eines bedrohten Lebensgefühls. Er verteidigt den Osten gegen den Westen. Sein sächsischer Held war bei der Volkspolizei. Im Jetzt der Handlung spielt er Sam Spade mit der Lizenz zur Kinderbetreuung. John Klein hat Übergewicht und einen Hund. Viel mehr hat er nicht. Die Verhältnisse des Privatermittlers sind so prekär, dass er sich vom Feind engagieren lassen muss. Der Feind macht was mit Medien und verdient damit Geld in Mengen. Ein Fleisch gewordener Traum der Digitalen Boheme arbeitet da, wo andere Urlaub machen. In der Zeit seiner Abwesenheit soll der kinderlose Witwer John einen Pubertierenden davon abhalten, die Schule zu schwänzen. Der Auftrag weitet sich aus, am vorläufigen Ende ergibt sich für John eine Wohngemeinschaft mit Jonas. Beide bauen Vorurteile ab. John popelt einen Pädagogen aus der langen Nase, die ihm Jonas dreht. Das ist der rührende Teil der Geschichte.

Man könnte John einen Ethnologen aus Voreingenommenheit und Leidenschaft nennen. Er beobachtet und klassifiziert die Phänomene des Verhaltens mit Mut zur Ungerechtigkeit. Sein Revier ist das französischer Viertel. Ins „Metzer Eck“ verfügt er sich wie in ein Wohnzimmer.

Thomas Knauf verbaut so viel Alltag im Text, dass man auf den ersten hundert Seiten die Miss Marple in John Klein manchmal ganz vergisst. Doch schließlich garantiert Hochspannung den Fortgang. Plötzlich überliest man das lokale Gipfel-Kolorit und sämtliche Seitenhiebe gegen die allgemeine Arroganz im handgeschöpften Anorak. Man will nur noch wissen, wie John und sein Schützling aus einem Schlamassel kommen, in dem alles steckt, was ein guter Tatort braucht.

*

Auch Edith stellt sich als Opfer steigender Mieten heraus. Sie wurde abgezockt von der Telecom. Zu ihren Geheimnissen zählt eine Vergangenheit als Mann. Darauf muss man erst einmal kommen. (Vielleicht habe ich was falsch verstanden, sehen Sie selbst Seite 148, 2. Absatz.) Edith schläft mit dem „Klassenfeind“. So nimmt sie einen westdeutschen Kriminalbeamten im Ruhestand wahr. Sex im Alter – der Pensionär schwört auf Viagra. Er glaubt, ein Löwenherz zu haben, zumal er Heinrich heißt. Sein Enkelsohn wurde in den Selbstmord getrieben. Die Sache liegt John auf der Seele, das ergibt sich aus verwegenen Beziehungsverflechtungen. Mord hält jung lässt sich auch als Gesellschaftsstudie lesen, beim zweiten Mal, wenn man den Krimi kapiert hat.

Edith gehört zu einer Spielvereinigung, die von Marianne Horn verstärkt wird. Marianne war Aufseherin in Ravensbrück. Ein Paar bildet sie mit einem Sinto im Rollstuhl. Das Leben ist bunt. In Ediths Heim sitzt ferner eine entfernte Verwandte von John die letzte Frist ab. Lotti Frohweins Lebenslauf startete mit Angst und Schrecken (von der Art, wie sie die Mariannes nach Recht und Gesetz verbreiteten). Das Kind verstummte, und als es wieder zu sprechen anfing, beherrschte es bereits das Vokabular der Gehörlosen. Lotti ist ein Genie in der Kunst des Lippenlesens. Als Spracherkennerin diente sie der Restauration von Filmkopien ohne Ton. Vom Kommunismus erwartete sie, dass er die Angst abschafft. Nachdem der Kommunismus sie enttäuscht hatte, gab es für Lotti nur noch Kino. Fünf Filme pro Tag sind nun ihr Programm im Heim.

Lotti führt ein Igelleben, trotzdem entgeht ihr nichts. Ein Verdacht veranlasst sie, den Mann ihrer verstorbenen Nichte zu informieren. Immerhin brachte der Ex-Polizist den Golem vom Prenzlauer Berg zur Strecke. John schiebt Lottis Aussage auf die vielen Filme in ihrem Dasein. Das plötzlich endet.

Thomas Knauf erzählt einen Film in Worten. Ich sehe die Metzer Straße schon gesperrt wegen Dreharbeiten. Franz Biberkopf steigt in Gestalt von Günter Lamprecht vom Olymp für verdiente Berliner und spielt John Klein mit Hund. Wie der sich in ein bulgarisches Dekolleté verguckt und fast verschluckt beim Anblick des Sparbuchs einer Toten. Wie ihn eine verjüngte Cox Habbema im „Aromi i Sapori“ (an der Belforter Straße) zum Träumen bringt. – Und er Freundschaft schließt mit einem Westfrüchtchen, das ihm die Waffe klaut – selbstverständlich ein DDR-Fabrikat mit siebzehn Einzelteilen.


Bewertung:    



Jamal Tuschick - 19. Dezember 2013
ID 7476
Thomas Knauf, Mord hält jung
304 Seiten
9,95 €
be.bra Verlag, 2013
ISBN 978-3-89809-532-7



Siehe auch:
http://www.bebraverlag.de


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