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Rezension

Semiya Simsek | Schmerzliche Heimat

Deutschland und der Mord an meinem Vater
Rowohlt Berlin 2013
ISBN 978-3-87134-480-0




Rechtsterrorismus und Alltagrassismus in Deutschland aus der Opferperspektive - Einblick in die Leidensgeschichte der Familie Simsek

Die Mordserie der NSU stellt ein Lehrstück dar, wie Xenophobie und Kollektivressentiments der Entmenschlichung eines konstruierten Anderen den Weg bereiten können. Semiya Simsek, die Tochter von Enver Simsek, eines der Opfer der ein Jahrzehnt lang Deutschland durchziehenden rechtsterroristischen Blutspur, schildert in ihrem Buch Schmerzliche Heimat den Facettenreichtum der erlebten Stigmatisierung und Ausgrenzung aufgrund vermeintlicher Fremdheit und Andersheit in der deutschen Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts. Ihre Beschreibungen bringen zum Ausdruck, dass jene Entmenschlichung, die in der physischen Vernichtung des konstruierten „Fremden“ ihren traurigen Höhepunkt findet, bereits in der unreflektierten Kategorisierung dieses Anderen als „Gefahrenquelle für das Eigene“ ihren zerstörerischen Charakter erhält.

Die Familie Simsek, schon seit Jahrzehnten in Deutschland ansässig, Tochter Semiya sogar hierzulande geboren und aufgewachsen, musste schmerzlich erfahren, dass es angesichts ihres türkisch-muslimischen Immigrationshintergrundes vielfach kaum überwindbare Hürden zu überspringen galt, bis sie von dieser deutschen Gesellschaft als kulturelle und geistige Bereicherung sowie würdevolles Mitglied akzeptiert wurden.

Ein fremdenfeindlicher, die Betreffenden zu „Unmenschen“ abstempelnder Diskurs assoziierte ihr Muslimsein und ihre türkischen Wurzeln so sehr mit einer Bedrohung für die deutsche, christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft, dass Repräsentanten hieraus jedes Bewusstsein für das Vorhandensein original menschlicher Empfindungen wie Schmerz und Leid bei dieser Bevölkerungsgruppe fehlte oder als „Täuschung zur Verbergung düsterer Absichten“ ausgelegt wurde.

Die Mörder von Enver Simsek kannten diesen offenbar ebenso wenig persönlich wie ihre anderen Opfer. Verwerfliches hatten sie auch nichts über ihn erfahren. Er gehörte lediglich einer mit „gefährlich für Deutschland“ eingestuften Kategorie von Menschen an, von der man die Gesellschaft befreien zu müssen glaubte. Dieses Bild einer von muslimischen Immigranten ausgehenden existentiellen Bedrohung für das deutsche Kollektiv bestand jedoch nicht nur bei den NSU-Terroristen, es kennzeichnete auch, wie Semiya Simsek, sich noch im Trauerzustand für den gerade ermordeten Vater befindend, erfahren musste, breite Gesellschaftskreise, sogar Teile der staatlichen Organe Deutschlands.

Für Medien wie ermittelnde Behörden stand nämlich bereits fest, dass die Mörder aus dem unmittelbaren familiären Umfeld des Ermordeten hervorgegangen sein mussten. Schließlich hing man mit dem Islam einer Religion an und entstammte mit der Türkei als Herkunftsland einer Kultur, die Gewalt, Kriminalität und Agieren im Verborgenen angeblich zum ihrem Markenzeichen erkläre. Trauer und Mitgefühl hatten die Angehörigen der als „Täter“ stilisierten Opfer von ihrer Umwelt nicht zu erwarten, stattdessen forderte sie die deutsche Öffentlichkeit unentwegt auf, aus dem „Verborgenen“ herauszutreten und sich zu dem begangenen „Unrecht“ zu bekennen.

Die Simseks assoziierten diese Behandlung jedoch ihrerseits nicht mit den Deutschen als Kollektiv und versuchten sogar, ihre Gefasstheit und ihr Grundvertrauen in den deutschen Staat beizubehalten. Lange Zeit gelang ihnen dies erstaunlicherweise in einem Maße, so dass man ihnen den inneren Schmerz kaum anmerken konnte. Der plötzliche Nervenzusammenbruch der Mutter deutet jedoch an, dass die permanente Verteidigungsaufforderung gegenüber immer wieder neu auftauchenden Anschuldigungen nicht spurlos an den Simseks vorüber gegangen ist.

Selbst nachdem sich die wahrhaftigen Täter am 11. November 2011 als „urdeutsche“, der Mehrheitsgesellschaft entstammende Zeitgenossen offenbarten, fehlte es den deutschen Sicherheitsbehörden am Gespür für menschlichen Anstand gegenüber den Opferfamilien. Auf einen entschuldigenden Anruf des BKA für die belästigenden Ermittlungen und Verdächtigungen wartete Familie Simsek vergeblich, weil man dort angeblich ihre Telefonnummer nicht besessen hatte.

Die Autorin kontrastiert diese vorgegebene Unkenntnis der Behörden mit der Effektivität, mit welcher Polizei und Verfassungsschutz in den Jahren zuvor ihre Adresse ausfindig gemacht hatten, um ihre Familie in strapaziös empfundenen Verhören zur angeblich ohnehin feststehenden „Wahrheit“ drängen zu können. Überhaupt drückt sie immer wieder ihre Verwunderung aus, wie detailliert einige Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft über die „Schattenseiten“ ihrer Kultur und Religion Bescheid zu wissen glaubten. Sie erzählt beispielsweise von nicht praktizierenden Christen, die über ihre eigene Religion und über die Bibel weniger Kenntnisse besaßen als sie, jedoch für jedes Muslimen zugeschriebene, von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abweichende Verhalten ein dieses angeblich rechtfertigendes Koranzitat parat hatten.

Simsek geht außerdem auf die V-Mann Problematik ein, wobei sie die V-Leute im Verfassungsschutz als „staatlich bezahlte Neonazis“ kennzeichnet, da ihnen zwar aufgetragen werde, die rechtsextreme Szene zu unterwandern, dafür jedoch Personen ausgewählt würden, welche die menschenverachtende Ideologie dieser Szene teilten und somit zur Stabilisierung des rechten Gedankenguts beitrügen. Die Tatsache, dass gerade in Sicherheitsbehörden wie Polizei und Verfassungsschutz die Voreingenommenheit gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Ländern verbreitet sei, sieht die Autorin letztlich als wesentlich dafür, dass der rechtsextremistische Terror über so lange Zeit hinweg weitgehend unbehelligt sein blutiges Handwerk habe verrichten können.

Mit der Wahl des Begriffes „Heimat“ bereits im Titel lässt Simsek, trotz der geschilderten bitteren Erfahrungen, erkennen, dass sie sich auch weiterhin mit Deutschland, dem Land ihres Lebensmittelpunktes, identifiziert. Deutschland ist für sie nicht nur eine von Rechtsterrorismus und Alltagsrassismus bestimmte, jegliches nicht mit der Mehrheit konform gehendes Element ausschließende Exklusivgemeinschaft, sondern ein prinzipiell auf der Gleichrangigkeit von Religion, ethnischer Herkunft und Lebensentwürfen wurzelndes demokratisches Gemeinwesen. Sie fordert die Mehrheitsgesellschaft zur Reflexion ihres Selbstverständnisses auf, in der Hoffnung, dass in der Zukunft theoretische Grundlage und praktischer Alltag in Deutschland übereinstimmen mögen.


Mohammed Khallouk - 26. Juni 2013
ID 6897
Semiya Simsek, Schmerzliche Heimat
Rowohlt Berlin 2013
272 Seiten
Hardcover € 18,95
EBook € 16,99
ISBN 978-3-87134-480-0



Siehe auch:
http://www.rowohlt.de/magazin_artikel/Semiya_Simsek_Schmerzliche_Heimat.3085706.html


Post an Dr. Mohammed Khallouk

http://mohammedkhallouk.wordpress.com



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