Zur Geschichte der
Massenkommunikation
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Bewertung:
Eng mit den Umwälzungen von 1968 zwischen Paris, Berlin und Prag verbunden war der Aufstieg einer akademischen Disziplin, der Massenkommunikationsforschung. Die Gründe liegen auf der Hand. Einerseits erkannten die neuen Bewegungen sehr schnell die Bedeutung der Medien für die Verbreitung ihrer Ziele, andererseits wurden sie selbst zur Zielscheibe für die etablierten Mächte, die über die Medien verfügten. In Deutschland erinnert man sich an die Anti-Springer-Kampagne, die keineswegs eine beiläufige Zutat, sondern neben dem Widerstand gegen den Vietnamkrieg, der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der Hochschulreform ein Herzstück der Studentenbewegung war. Und so ist es kein Wunder, dass die 1957 gegründete IAMCR (International Association for Media and Communication Research) in den späten sechziger Jahren an Mitgliedern und Bedeutung beträchtlich zugenommen hat.
In der Geschichte der Organisation, die Jörg Becker und Robin Mansell jetzt in englischer Sprache [Reflections on the International Association for Media and Communication Research] vorgelegt haben, spiegelt sich die allgemeine politische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte. So gut wie alle Strömungen der sozialen und wissenschaftlichen Entwicklungen haben in ihr ihren Niederschlag gefunden. Kein Wunder: ist doch die Massenkommunikation und ihre Erforschung sowohl Produkt wie Antrieb der Veränderungen in der Gesamtgesellschaft.
Es ist von mehr als nur marginaler Signifikanz, dass gleich am Anfang eine britische (!) Autorin auf den Zusammenhang zwischen der IAMCR und der Frankfurter Schule hinweist. Dass die Klassifizierung der IAMCR als „linke“ Organisation problematisch ist, belegt die Rolle, die die dezidiert konservative Elisabeth Noelle-Neumann in ihr gespielt hat. Auch der damals engagiert linke Dieter Prokop hat sich im Übrigen später weit nach rechts entwickelt. Fest steht, dass die IAMCR in ihren zweijährlichen Konferenzen Wissenschaftler aus Ost und West zusammenbrachte und, wie gleichzeitig beispielsweise der PEN, Gespräche ermöglichte, die während des Kalten Krieges nicht alltäglich waren. Intrigen und Machtkämpfe konnten auch sie nicht ganz verhindern.
Zu den einflussreichen Schlüsselfiguren gehörte lange vor dem Ende der DDR der spätere PDS-Politiker Lothar Bisky. Die einzelnen Länder brachten unterschiedliche Traditionen, Schwerpunkte und Prioritäten ein. So hatten für die Briten Stuart Hall und seine „Cultural Studies“ ein Gewicht, das sie anderswo nicht erlangen konnten. Auch der Amerikaner Herbert I. Schiller, über den es in der deutschsprachigen Wikipedia keinen Artikel gibt und den sein Porträtist im vorliegenden Band burschikos „Herb“ nennt, hatte großen Einfluss auf die Organisation. Universell waren die feministischen Anstöße, die auch die IAMCR grundlegend geprägt haben.
Heute ist die Massenkommunikationsforschung an den Universitäten von Adorno, Schiller, Hall so weit entfernt wie die Zeitungslandschaft von der Washington Post zur Zeit der Watergate-Affäre. Der Aufbruchseifer der 68er ist dem Zynismus der Macht in den Massenmedien wie in ihrer wissenschaftlichen Erforschung gewichen wie der Friedens- und Verständigungswillen einem nicht mehr nur Kalten Krieg. Auch in dieser Hinsicht spiegeln Organisationen wie die IAMCR die Gesamtgesellschaft.
Eine Nachbemerkung zur Bewertung. Ein Buch wie dieses lässt sich nicht bewerten wie ein Roman oder ein Film, ein Konzert oder eine Oper. Wer sich für den Gegenstand nicht erwärmen kann und gegen den Stil wissenschaftlicher Prosa eher Abneigung empfindet, für den hat es keinen Wert. Wer aber an der Geschichte der Massenkommunikation, deren Erforschung und ihrem Stellenwert im Rahmen der allgemeinen politischen Geschichte Interesse hat, der wird es mit Gewinn lesen. Für ihn oder sie gelten die 5 K.
Thomas Rothschild – 6. Mai 2023 ID 14179
https://link.springer.com/book/
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