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Rezension

Mark Benecke | Seziert. Das Leben von Otto Prokop

Verlag Das Neue Berlin, 2013
ISBN 978-3-360-02166-3




Unter Ärzten gelten Gerichtsmediziner als „postmortale Klugscheißer“. In Fernsehkrimis halten sie an der Hades-Pforte bürgerliche Umgangsformen hoch. Gern sind sie die letzten Lateiner im Labyrinth der Amtsflure. Sie tragen Fliege und ermitteln auf eigene Faust. Ernst Jünger sieht sie in einer Tradition ägyptischer Mumien-Spezialisten im Dienst der Pharaonen. Der Typus des Pathologen verdichtet sich in der Person von Otto Prokop (1921-2009). Jahrzehnte leitete er das Gerichtsmedizinische Institut an der Berliner Humboldt-Universität (in der Charité). Wie Manfred von Ardenne war Prokop ein DDR-Wissenschaftler mit internationaler Ausstrahlung. Der aus St. Pölten in Österreich gebürtige „Blutgruppenspezialist“ folgte 1957 einem Ruf nach Berlin. Das war eine Karriereentscheidung: frei von Zuneigung für das realsozialistische Deutschland. Die nationalsozialistische Rassenideologie hatte sich auf Prokops Ausbildung zwangsläufig ausgewirkt, Benecke skizziert Biografien verstrickter Lehrer und Kollegen, im ständigen Verlauf vom NS-Studentenbund zum Großen Bundesverdienstkreuz.

Der Autor zeigt Prokop als einen Mann der Tatsachen. Prokop habe als akademischer Mitarbeiter Ergebnisse von Reihenuntersuchungen nicht in Einklang gebracht mit den rassehygienischen Ansichten seiner Ausbilder. Bei der staatstragenden Suche nach einem „Zusammenhang von Blut und Charakter“ verhalf er stets der Statistik und der Skepsis zum Sieg über das NS-System „mit (s)einer klebrigen, alternativmedizinisch-spirituellen Anschauung“.

„Eine Anfälligkeit niedriger Rassen für Verbrechen“ war auch in der Bundesrepublik als Lehrmeinung noch salonfähig und befähigte zu Führungsaufgaben. Benecke stellt deshalb fest: „Prokops Haltung brauchte Mut.“ Prokop selbst spricht nach seiner Emeritierung von dem Glück, nicht „auf dem Feld der gerichtlichen Nervenheilkunde“ als Gutachter gefragt gewesen zu sein.

Die Pathologisierung von Oppositionellen geht in der DDR an ihm vorbei. Er tritt auch nicht in die SED ein. Seine Leidenschaft gehört dem Blut, für Prokop ein Eldorado. Er treibt eine Methode der Vaterschaftsbestimmung voran. Er untersucht die Unterschiede „zwischen Kuh- und Frauenmilch“. Er denkt nach über Alkohol und die Risiken der Gewöhnung. Mit großem Unterhaltungswert tritt er als Sachverständiger in Prozessen auf, die paranormale Phänomene in „Okkult-Delikten“ bei der Wahrheitsfindung berücksichtigen müssen. Prokop befähigt nicht nur ein nie auskühlender Drang zur Forschung, ihn kitzelt außerdem der pädagogische Eros.

Mark Benecke exponiert Prokops „wissenschaftlichen Spieltrieb“, eine interdisziplinäre Nonchalance. Des Professors gute Laune. Andererseits lebt der Wissenschaftler im Spinnennetz der Staatssicherheit. Die Grenzen „zwischen Forschung, Polizeiarbeit, Justiz und Geheimdiensten“ fließen. Selbstmorde werden umgedichtet, Suizid gilt als „unsozialistisch“ – Die DDR ist kein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung. Benecke nennt Prokops Engagement einen lückenlos überwachten „Eiertanz zwischen Forschung und Staat“. Man schleppt ihm „Mauertote“ in die Pathologie und stattet ihn mit den höchsten Preisen aus, wohl wissend, dass sie Prokop in den Lesearten des Westens diskreditieren. Er ist ein Gefangener seines Erfolgs – in einem Ostblock, der zu Stalins Zeiten abergläubische Begriffe von der Genetik kultiviert (siehe Trofim Lyssenko) und immer zu wenig Geld für die Forschung bereitstellt.

Prokop überspielt die ambivalenten Bindungen mit Bonhomie. Sein Biograf Benecke verbeißt sich, er liefert die Gewerke des Kalten Kriegs in soziologischen Einschätzungen ab. Der Autor leuchtet dem Leser in Dunkelkammern der Geschichte. Er weiß: Prokop kennt Einzelheiten (im Rang von Staatsgeheimnissen) des von sowjetischen Truppen 1940 verübten, der Wehrmacht in die Stiefel geschobenen Massakers an der polnischen Elite bei Katyn. Prokop schweigt. Er profiliert sich im Schlagabtausch zwischen Ost- und West-Sachverständigen anlässlich eines historisch gewordenen „Lustmord“-Falls. „Todesfälle beim Beischlaf sind nicht so selten, wie der Laie glaubt.“

Benecke kann seinen Gegenstand ganz erfassen, ich kann nur staunen. Ich habe vom Lesen heiße Ohren, so packt mich das Buch. Ihm eingegliedert sind Interviews, so mit Gabriele Goettle, die Otto Prokop porträtierte, und mit Prokops Kollegenfreund Gerhard Uhlenbruck, der sagt: „Meine wichtigsten Bücher sind die, die ich mit Otto Prokop verfasst habe.“

Jamal Tuschick - 9. Oktober 2013
ID 7237
Mark Benecke| Seziert. Das Leben von Otto Prokop
304 Seiten
12,5 x 21,0 cm
mit zahlr. Fotos
geb. mit Schutzumschlag
19,99 € / eBook 15,99 €
Verlag Das Neue Berlin, 2013
ISBN 978-3-360-02166-3



Siehe auch:
http://www.das-neue-berlin.de/programm-dnbv/titel/1598-seziert.html


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