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Rezension

Helene Hegemann | Jage zwei Tiger

Roman
Hanser Berlin, 2013
ISBN 978-3-446-24367-5




Das ist so aus der Mode gekommen, dass es fast schon wieder "in" ist. Es gibt die übermächtigen Mamas, die gütigen Papas, die sich in ihrer elterlichen Fürsorge nicht lumpen lassen, wobei Ausnahmen natürlich die Regel bestätigen. Dagegen dürfen die Kinder dann nach allen Regeln der Kunst rebellieren - die Eltern werden bedenkenlos beide Augen zudrücken. Ach, was gäben andere Töchter und Söhne für so einen Papa wie ihn die Autorin Hegemann hat! Der es fertig bringt, sein Mädchen im Literaturbetrieb so richtig groß herauszubringen - und zwar mit Texten, die eigentlich genau das verkörpern, was böse Mädchen so unheimlich gerne tun: Dem Papa die Zunge rausstrecken - ihm und seiner Generation mit ihren Vorbildern und Idealen. Und der Papa und seine Freunde sind mittlerweile so saturiert und erfolgs-erschöpft, dass sie es richtig cool finden, wenn die eigenen Sprösslinge ihnen dreist in die Fresse hauen und all den Göttern eine Nase drehen, die sie ihr ganzes Leben so erfolgreich angehimmelt haben. "Götter" mit Namen wie "literarische Könnerschaft" oder "Originalität".

Die Momente, wenn die Aufklärung in ihr Gegenteil umschlägt, sind prickelnd, und schon der alte Horkheimer (zusammen mit diesem Typen, der alles von ihm abgeschrieben hat: Adorno) wussten, dass diese Peripetie zumeist die Farbenfolge des Generationenkonfliktes trägt. Selten, sagen wir es frank und frei, ereignet sich der Umschlag in die Gegenaufklärung innerhalb einer Vita. Zumeist ist es ein Merkmal der Erbfolge.

Helene Hegemann, die Erbin, gibt sich in ihrer Prosa betont lässig. Lässigkeit aber, so steht zu vermuten, ist nicht das, was ihre spezifische Idee von Literatur ist. Authentizität scheint vielmehr ihr bevorzugter Spleen zu sein, was sie, die Autorin, peinlicherweise mit Originalität verwechselt. Ist es aber nicht!

Denn da gibt es zwei grundverschiedene Thesen!

Die erste These: Authentisch ist, was knallt, was roh ist und ohne Stilisierung daherkommt. Was sich nicht um formale Schönheit schert. Das wäre in ihrem Fall vielleicht anti-väterlich. (Jedenfalls nicht das Zeug, das Papa und seine Freunde gut finden.) Einst sagte Virginia Woolf über Joyce, er schreibe roh, nicht gekocht. So etwas in der Art. Oder denken wir an die "neue Sachlichkeit", etwa an Döblin, an Keun. So könnten wir der Sache Hegemann näher kommen. Zugegeben also: Es gibt Könner der Rohheit. Aber lassen wir diesen Gedanken. Joyce. Döblin, Keun. Das rückt die Hegemann doch definitiv in die falsche Ecke! Denn: Es ist nicht eigentlich Kunst in ihren Texten zu finden, sondern allein diese Idee!

Zweite These: Authentisch ist, was das Wesen der Wirklichkeit widerspiegelt. Goethe nannte das "Realismus", meinte damit aber etwas anderes: Bei ihm war da poetische Stilisierung inklusive. Aber genau das will Hegemann ja nicht, weshalb sie eben die erste These bedient. Doch verteidigt sie die Abbildungsthese so radikal, dass von ihrem heimlichen Ziel, der zweiten These, nichts, absolut nichts übrig bleibt. Das ist bei Joyce und Döblin und Keun bekanntermaßen anders.

Erschwerend kommt hinzu: Hegemanns Literatur ist im Grunde moralisierend. Dem Roman vorangestellt liest man: "Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll. Jage zwei Tiger." Das also ist der Weg zur Exzellenz: Tapferkeit hoch zwei. Hegemann erlegt mit ihrem Roman tatsächlich zwei Tiger: Den Tiger der Verkaufszahlen und den Tiger der Exklusivität. Also theoretisch. Praktisch sind es Papiertiger.

Aber hach - 21 Jahre jung ist diese Helene Hegemann. Und als sie 17 Jahre alt war, man stelle sich das mal vor, machte sie schon Furore. Ihre väterlichen Freunde sorgten damals für einen Bucherfolg, der Roman trug den nichtssagenden Titel Axolotl Roadkill. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier geht es darum, mit aller Macht eine neue große Stimme der deutschen Literatur zu etablieren, die Marketingabteilung des Literaturbetriebs läuft auf Hochtouren und tatsächlich, es wirkt: Der ein oder anderer Kritiker lässt sich beeindrucken und vergisst dabei ganz, einen unvoreingenommenen Blick in dieses Buch zu werfen.

Also die Story, bitteschön, ein buntes Konglomerat an Geschichten, nahtlos aneinandergereiht, Dampfplaudererzählton, was natürlich nicht bedeutet, dass es keinen roten Faden gibt - man muss ihn nur finden, voila, hier eine Variante: Die Mutter stirbt bei einem Unfall, der Sohn Kai, elf Jahre alt, überlebt, ein fetter, unentspannter Brillenträger mit Sommersprossen (wen auch immer das interessiert). Der Vater Detlev, so der Erzähler, ist "ok", natürlich bemüht, ein Frauentyp, was der Erzähler hinlänglich bedauert. Als er seinen Sohn, der seine Mutter verloren hat, nach dem Unfall besucht, macht er ihm unmissverständlich klar, dass er nicht der Typ Vater sei, der hier helfen könne; also gar nicht der familiäre Typ, eher Bruder Leichtfuß und so. Dass Detlev seiner Verantwortung nicht gerecht wird, scheint überraschenderweise ebenfalls "ok" zu sein - warum auch immer. Kai, plötzlich gereift, flieht, will ab sofort von nichts und niemandem mehr abhängig sein und läuft und läuft und läuft - in ein Waldgebiet. Gut. Dort trifft er eine Ziege und einen Zirkusclan. Vor allem aber trifft er dort auf ein Mädchen mit Namen Samantha, sowie anderen Jugendlichen, zumeist mit Drogenprobleme, selbstzerstörerisch. Sie scheinen Kai, nun ja, irgendwie zu beeindrucken, ohne dass man davon offen sprechen sollte, denn Kai hat sich ja vorgenommen, nicht mehr "beeindruckt" zu sein. Kai, das wäre nun zu erwähnen, liebt Samantha.

Andererseits: Die nymphomane Cecile, sie lernen wir später kennen, liebt Kais Vater. Kai und Cecile freunden sich an, schaffen es aber nicht, aus ihren Beklemmungen und subalternen Lasten Gewinn zu schlagen. Zeitweise suchen sie gemeinsam Samantha. Warum führt hier zu weit. Jedenfalls: Die Eltern sind fern, die Kinder reiben sich buchstäblich auf im Kampf um einen Platz in der Welt. Nach Möglichkeit sei dies aber bitte ein nonkonformistischer Platz! Wie der so aussieht? Bitteschön:

„Man kann sich dann unauffällig und interesselos durch eine Masse bleigrauer Freizeitangebote kämpfen, seine Eltern ermorden oder Musik hören. Letzteres ist irgendwie okay, solange man währenddessen zufällig mit psychedelischem Garagenrock konfrontiert wird. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: der Song ,Suzy Cramcheese’ von der Band Teddy and His Patches, 1966 gegründet in der drittgrößten Stadt Kaliforniens von einem sogenannten Jugendlichen...“

Bei  Helene Hegemann sind alle Figuren und Konstellationen irgendwie radikal, holzschnittartig und alternativlos. Es geht allen immer nur ums große Ganze. Ein unerträgliches Pathos, versteckt - siehe erste Abbildungsthese - hinter der Stilistik nassforscher, unverblümter, "jugendlicher" Lässigkeit. Alles läuft nach dem Motto: Seht her, was für eine Checkerin unserer Gegenwart diese Hegemann doch ist.

Ceciles langatmig und uninspiriert erzählte Affäre mit Kais Vater scheint am Ende auf die Banalität hinauszulaufen, in Detlev den ewig junggebliebenen geilen Bock zu erkennen - genau genommen fehlt ihm zum Heros "nur" die Tiefe einer erotischen Inspiration - um die zu finden hat Detlev sicher noch Lebenszeit übrig - und Frau Hegemann Übungszeit. In diesem Generationenroman scheint überhaupt das Älterwerden auf eine erschreckend banale und töricht moralisierende Weise interpretiert zu werden. Stichworte genügen hier: Bitte kein Aufgehen im Konsum! Bleib unabhängig! Lass dich nicht vereinnahmen von der Werbewelt, von der Bürgerlichkeit und allen Klischees. Kurz gesagt: Unerträglich langweilig!

Man kann das nicht schöner sagen: Dieser Roman scheitert auf jeder Ebene, er lohnt die Lektüre definitiv nicht. Insgesamt läuft alles auf eine spastische Wiederbelebungsattitüde längst ausgestorbener thematischer, figürlicher und stilistischer Stereotypen hinaus. Man fragt sich am Ende nur, warum dieses furchtbare Manuskript publiziert werden musste?

Die Antwort - die Antwort sollte sich jeder selbst geben.


Jo Balle - 4. Oktober 2013
ID 7220
Helene Hegemann | Jage zwei Tiger
Fester Einband, 320 Seiten
19,90 € (D) / UVP 27,90 sFR (CH) / 20,50 € (A)
Hanser Berlin, 2013
ISBN 978-3-446-24367-5



Siehe auch:
http://www.hanser-literaturverlage.de/


Post an Dr. Johannes Balle



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