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Buchkritik

Frank Günther | Unser Shakespeare

dtv, 2014
ISBN 978-3-423-26001-5



Shakespeare für alle

In seinem unterhaltsamen und abwechslungsreichen Buch Unser Shakespeare bringt der Autor und Theaterregisseur Frank Günther uns Shakespeare (1564 – 1616) so nahe, dass auch ein Laie folgen und sich nach der Lektüre sogar kenntnisreich in etwaige Debatten einbringen kann. Dabei verliert Günther sich nicht in wüsten Spekulationen, Haarspaltereien oder akademischen Diskursen: Frank Günther übersetzt seit 40 Jahren Shakespeares Stücke ins Deutsche, 34 der insgesamt 37 Stücke hat er bereits erfolgreich übertragen. Er ist also ein Text-Handwerker mit dem Anspruch, in seinen Übersetzungen den gesamten Text so vers-getreu und sinngemäß wie nur möglich wiederzugeben. Im Hinterkopf hat er immer die Maßgabe, dass seine Übersetzungen auf der Bühne auch funktionieren müssen.

In Deutschland wurde man erst weit über 200 Jahre später, im 18. Jahrhundert, auf Shakespeare aufmerksam. Günther schildert eingangs die gesellschaftspolitischen und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge, die dazu führten, dass die Deutschen Shakespeare bis heute für sich vereinnahmen. „Poet-napping“ (Poeten-Klau) nennt Günther das Phänomen, denn kein anderer „fremder“ Poet ist jemals so zum deutschen Nationaldichter stilisiert worden wie dieser. Besonders Hamlet wurde zum Ausdruck deutscher Befindlichkeit erkoren, das Stück Hamlet als Spiegel der politischen Verhältnisse in Deutschland in Zeiten verschiedener Umbrüche empfunden. Trotz aller gottgleichen Verherrlichung des unsterblichen Barden haben die damaligen Übersetzer nicht alle Textstellen übersetzt, entweder weil sie zu schlüpfrig waren oder zu unverständlich. So leicht macht Günther es sich nicht. Er übersetzt alles. Dabei muss er sich manchmal vom Wortlaut des Originals weit entfernen, um den Sinn in den deutschen Kulturkreis und Wortschatz zu transferieren. Vor allem aber hat er sich die Modalitäten in der Entstehungszeit der Dramen in der Elisabethanischen und Jakobäischen Zeit genau angesehen.

Das Globe-Theater, dessen Anteilseigner Shakespeare war, liegt am Südufer der Themse, das damals außerhalb der Gerichtsbarkeit der Stadt London gelegen war. Die Theater waren keine bildungsbürgerlichen oder Musentempel, sondern standen in Konkurrenz zu den Schänken, Bärenhatzen, Hahnenkämpfen und Bordellen. Ein Sündenpfuhl und Tummelplatz fragwürdiger Gestalten und angesichts der katastrophalen hygienischen Verhältnisse (Toiletten gab es keine, gewaschen hat man sich auch nicht) schwebte die Angst vor ansteckenden Krankheiten über allem, namentlich vor der gefürchteten Pest. Günther schildert diese Umstände sehr anschaulich, die in krassem Gegensatz zur häufigen Ansicht stehen, dass Shakespeare nur etwas für Akademiker und Bildungsbürger sei. Im Gegenteil wurde Shakespeare wegen seiner mangelnden Schulbildung von seinen gebildeteren Kollegen, namentlich Ben Jonson, kritisiert. Aber auch die ebenfalls kursierende Ansicht, dass Shakespeare ein ungebildeter Bauerntölpel und sein Geburtsort Stratford ein „Kuhdorf“ gewesen sei, lässt sich ebenso wenig aufrecht erhalten.

Stratford-upon-Avon liegt an einer alten römischen Handelsstraße und war ein Verkehrsknotenpunkt, an dem der Fluss Avon überquert werden konnte. Stratford war Marktstadt, aber von der Größe her immer noch überschaubar. Shakespeares Vater war Handschuhmacher, hatte sich zur aufstrebenden Bürgerschicht hoch gearbeitet. Er gehörte zu den Honoratioren der Stadt und war zeitweise sogar Bürgermeister von Stratford. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er seinen Sohn William auf die mitten in der Stadt gelegene Grammar School geschickt hat, deren Besuch zudem kostenlos war. Die Stratforder Bürgerschaft hatte sogar beschlossen, den Lehrern, die allesamt in Oxford studiert hatten, ein doppelt so hohes Jahresgehalt zu zahlen, wie üblich. Da es nur wenige erhaltene Dokumente gibt, muss man sich oft zu Mutmaßungen hinreißen lassen. Wenn der kleine Will nun als 7jähriger auf die Grammar School gegangen ist, hat er lateinische Grammatik gelernt. Unterricht war von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Günther rechnet vor, dass allein vom Zeitfaktor her, 7 Jahre Grammar School heute einer 14jährigen Schulzeit entsprächen. Günther betont, dass die Absolventen der Grammar School in Stratford zu dieser Zeit einen höheren lateinischen Wortschatz beherrschten als ein Student der Altphilologie beim Staatsexamen heute. Der Lernerfolg war so gut wie gesichert, denn bei Nichtbeherrschung des Unterrichtstoffes galt die Prügelstrafe. Neben der lateinischen Lektüre von Ovid, Vergil, Horaz und vielen anderen stand das Übersetzen vom Lateinischen ins Englische und umgekehrt auf dem Lehrplan. Das Auswendiglernen und eingehende Kenntnisse in Rhetorik kamen Shakespeare später bei seiner Arbeit als Schauspieler und Stückeschreiber sicher zu gute. Dass Shakespeare Lateinkenntnisse in seine Stücke hat einfließen lassen, ist gesichert. Doch reichen diese nicht an die der studierten Kollegen heran, die in ihren Dramen die alten Meister kopierten, was als legitim und hohe Kunst galt. Shakespeare hat nicht so sehr nachgeahmt, sondern eigene Schwerpunkte gesetzt, in denen es um allzu Menschliches ging, das er mit großer Empathie zu schildern wusste.

Günther führt an, dass es bis 1604 kein englisches Wörterbuch und keine englische Grammatik gab. Durch die Weltreisen der Seefahrer und einen regelrechten Boom in Handwerk, Wissenschaft und Technik hatte sich auch der Wortschatz vehement erweitert, nicht zuletzt durch Reisende und Einwanderer aus fremden Ländern. Als im 17. Jahrhundert die englische Sprache standardisiert wurde, stammten rund 3000 Begriffe aus Shakespeares Schriften, die er erstmals festgehalten hatte. Die Sprachvernarrtheit der Elisabethaner tat ein übriges, so dass Wortspielereien und Sprachakrobatik die Stücke ausmachen. Für einen Übersetzer wie Günther ist das Herausforderung und Tagesgeschäft, so auch für die Übersetzer in andere Sprachen. Heute haben die englischen Muttersprachler das Problem, ihren Shakespeare im Original nicht mehr zu verstehen, so dass es im Englischen einen Trend gibt, das Shakespeare-Englisch ins heutige Englisch zu übertragen. Denn heute kennen wir die lateinischen und griechischen Klassiker nicht mehr, und wir sind auch nicht mehr bibelfest genug, um die zahlreichen biblischen Anspielungen zu verstehen, die für Shakespeare und seine Zeitgenossen zum Alltag gehörten.

Günther fände es schade, wenn der Name Shakespeare ähnlich wie der von Picasso für etwas stünde, was man nicht so richtig versteht. Aber selbst dann glaubt er: „Seine archetypisch gewordenen Gestalten werden in unserem kulturellen Bewusstsein bleiben, das er mitgeprägt hat. Shakespeare gehört zum Menschheitserbe.“ Mit diesem Buch und seiner 40jährigen Übersetzungstätigkeit der Dramen hat Frank Günther einen wichtigen Beitrag geleistet, das zu verhindern oder zu verzögern. In jedem Jahr erscheinen rund 6000 Publikationen über William Shakespeare, schreibt er. Doch kaum eine davon kann zusätzliches Licht in die dürftige Aktenlage im Fall Shakespeare bringen. Günthers Unser Shakespeare zeichnet sich durch die Mischung an Informationen aus und deren praktischen Aussagewert. Was Günther sonst noch über Hamlet, Othello, Maß für Maß, den Kaufmann von Venedig, Romeo und Julia und vielem mehr zu sagen hat, ist spannend und erkenntnisreich zugleich. Er geht natürlich auch darauf ein, was er von der Annahme hält, dass Shakespeare gar nicht der Autor der Stücke ist...


[Literaturbegeisterten sei noch das Bändchen Shakespeares Wortschätze ans Herz gelegt, ebenfalls 2014 bei dtv erschienen und Perlen von Shakespeares Dichtkunst und Günthers Übersetzungsleistung enthält.]


Bewertung:    





Helga Fitzner - 20. Mai 2014
ID 7842
Frank Günther | Unser Shakespeare
340 Seiten
€ 14,90 [D] | € 15,40 [A] | SFR 21,90
dtv premium, 2014
ISBN 978-3-423-26001-5


Siehe auch:
http://www.dtv.de/buecher/unser_shakespeare_26001.html


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