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Rezension

Erdmut Wizisla (Hrg.) | Begegnungen mit Bertolt Brecht

Suhrkamp Verlag, 2014
ISBN 978-3518464717



Bertolt Brecht: 59 Studien


Elias Canetti gegenüber äußerte Bertolt Brecht einmal, er habe das Telefon immer auf dem Tisch und könne nur schreiben, wenn es oft läute. Über den Augsburger gibt es viele Geschichten. In dem bei Suhrkamp neu aufgelegten Buch Begegnungen mit Brecht erinnern sich 59 Zeitgenossen an den Menschen Brecht. Der Band versammelt sehr abwechslungsreiche Texte, beschreibt den Lyriker und Dramatiker in vielen Facetten, zeigt ihn in all seinen Widersprüchlichkeiten - Bekanntes steht neben Unbekanntem, Klassisches neben Entdeckungen.

Die Texte, die Erdmut Wizisla zusammengetragen und herausgegeben hat, stammen aus mehr als achtzig Jahren. Sie reichen von Elisabeth Hauptmanns Notizen über Brechts Arbeit 1926, die bald nach Brechts Tod unter Verwendung von Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1926 verfasst worden sind, über Lion Feuchtwangers Porträt Bertolt Brecht, dargestellt für Engländer, das 1928 in der Weltbühne erschien, bis zu den eigens für dieses Buch geschriebenen Erinnerungen von Regine Lutz und Peter Voigt. Vor jedem Text steht etwas Kluges zum Verfasser, wodurch sich das Verhältnis zu Brecht ermitteln lässt. Wie bei einem Mosaik entsteht so ein vielteiliges und buntes Bild vom Menschen Brecht. 

Die in dem Buch versammelten Erinnerungen gehören verschiedenen Stilrichtungen an. Sie sind daher auch nicht chronologisch angeordnet. Einige sind spontan, für den privaten Gebrauch oder für wenige Adressaten verfasst und erst aus dem Nachlass der Autoren publiziert worden. Andere galten von vornherein der Öffentlichkeit. So stehen Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Artikel gleich neben Erinnerungen und Memoiren, sind Aufsätze zu Jahrestagen und Gespräche enthalten, die manchmal erst Jahrzehnte später entstanden, als Brecht schon gestorben war.

Das lässt sich insbesondere an den Erinnerungen von Max Frisch erkennen. Auf die in dem Band abgedruckten Seiten des ersten Tagebuchs von 1950 hat Brecht wie folgt reagiert: Er verspüre „einen kleinen Schreck vor dem Beschriebenwerden, und durchgeschätzte mehr als durch gelittene Beschreiber“, ließ Brecht Frisch am 23. Januar 1950 wissen und er fuhr fort: „Aber dann las ich Ihre schöne und freundliche Zeichnung des fremden Zugvogels doch mit Spaß – wie die eines Menschen, den ich selber flüchtig kenne.“ Man wird nicht sagen, dass die Brecht-Abschnitte des zweiten Tagebuchs das Erlebte stilisieren oder gar verfälschen. Aber sie wagen mehr: „Plötzlich, bei einem nächsten Zusammentreffen, hatte er wieder das Häftlingsgesicht: die klein-runden Augen irgendwo im flachen Gesicht vogelhaft auf einem zu nackten Hals.“ Diese Seiten aus dem Tagebuch 1966–1971, die in Begegnungen mit Brecht, da jeder Autor nur einmal zu Wort kommen sollte, nicht aufgenommen wurden, hätte Frisch Brecht wohl nicht vorgelegt. „Ein erschreckendes Gesicht: vielleicht abstoßend, wenn man Brecht nicht schon kannte“, heißt es da, und dann, das Häftlingsmotiv aufnehmend: „Ein Lagerinsasse mit Zigarre.“ Uwe Johnson nannte das Brecht-Bild des zweiten Tagebuchs in einem Brief an Max Frisch vom 9. Januar 1971 „authentisch ohne jede Konkurrenz“, und er schrieb: „Dagegen scheinen die Berichte aus der bisherigen Literatur über die Person Brecht für mich eben nicht nur schwächlich, sondern auch falsch. Was Sie hier hingestellt haben: ist nicht nur ein verständliches Bild von Brecht, sondern auch eines, dessen Kongruenz mit seinem Werk nicht verdächtigt werden kann.“

Brechts Persönlichkeit scheint früh kenntlich und frappierend kohärent gewesen zu sein. Auf fast alle, die ihn trafen, machte er einen besonderen Eindruck. Harry Graf Kessler, der Chronist einer ganzen Epoche, steht da in guter Gesellschaft, auch wenn er, der so viele Menschen getroffen hat, die Begegnung vielleicht besser als andere auf den Punkt bringen konnte. Am 30. Oktober 1928, also gut zwei Monate nach der Premiere der Dreigroschenoper, hält Kessler in seinem Tagebuch einen Besuch in der Wohnung Erwin Piscators fest: „Brecht kennengelernt. Auffallender Dekadentenkopf, fast schon Verbrecherphysiognomie, sehr dunkel, schwarzes Haar, schwarze Augen, dunkle Haut, ein eigenartig lauernder Gesichtsausdruck: fast der typische Ganove. Aber wenn man mit ihm spricht, taut er auf, wird fast naiv. Ich erzählte ihm, wie es schien zu seinem größten Vergnügen, d’Annunzio-Anekdoten. Er ist jedenfalls 'ein Kopf', wenigstens äußerlich, und nicht unsympathisch (wie Bronnen).“

„Auffallender Dekadentenkopf“: Beschreibungen von Brechts Äußerem durchziehen das Buch wie ein roter Faden. Immer wieder geht es um die Form des Schädels, die Physiognomie, die Augen, den wachen Blick. Zeitgenossen äußerten sich über Brechts Kleidung, seinen Habitus, die hohe, leicht meckernde Stimme mit dem Augsburgischen Dialekt, die Diktion, den raschen flachen Gang. Diese Merkmale schienen jedoch nicht unverbunden mit Brechts Verhalten und seinen Eigenschaften, wie sie in Begegnungen mit Brecht zur Sprache kommen: der sprühenden Intelligenz, der Freude am Disput, der kaum zu bändigenden Kreativität, seiner Fürsorglichkeit und einer erstaunlichen Begabung zur Freundschaft. Der Regisseur Bernhard Reich nannte Brecht dann auch „eine für Freundschaft höchst empfindliche Natur". Er habe gern geholfen, wenn jemand in materieller Verlegenheit war, dann allerdings nur selten mit Geld, sondern eher mit Aufträgen, an denen jemand etwas verdienen konnte.

Um allseits beliebt zu sein, fehlte Brecht aber das Talent. Er war viel zu klar in seinen Äußerungen, zu kantig, dominant und energisch. Auffallend war seine Lust an der intellektuellen Fehde, am Konflikt, an der paradoxen Wendung. Sidney Hook hat eine solche Provokation nicht aushalten können. Wenn Brecht sich unwohl fühlte oder den Eindruck hatte, in der falschen Gesellschaft zu sein, machte es ihm Spaß zu brüskieren. Eine solche Szene überliefert der Schriftsteller Sigismund von Radecki von der ersten Begegnung Brechts mit Karl Kraus. Nach dem Gespräch habe Brecht, der Kraus außerordentlich schätzte, gesagt: „Ein großer Mensch, der Kraus, aber im Ernstfall wird man ihn doch an die Wand stellen müssen.“ Brecht hätte sich damit eines Gefühls der Unterlegenheit erwehren wollen, erklärte Radecki, denn Kraus wäre, auch wenn Brecht heute zehnmal berühmter sei, „die mächtigere Persönlichkeit gewesen“.

Die Textsammlungen in Begegnungen mit Brecht ergeben ein typisches Bild aus dem Jahrhundert der Extreme. Viele der Akteure wurden aus Nazideutschland vertrieben. Einige saßen vorher im Gefängnis. Brechts Übersetzer Sergej Tretjakow wurde in der Sowjetunion erschossen. Das Exil zerriss Beziehungen, weil Freunde in alle Welt verstreut waren oder in Deutschland blieben. Von Caspar Neher und Peter Suhrkamp hatte Brecht lange kein Lebenszeichen. In Kalifornien entstanden aber auch neue Freundschaften. Nicht alle, die der Familie in den Staaten nahestanden, haben dann auch erlebt, was Brecht und Helene Weigel mit dem Berliner Ensemble aufbauten. Zu kurz war die Zeit, die Brecht zur Verfügung stand. Zu dem erschwerte der Kalte Krieg die Kommunikation. Verhinderte der „Eiserne Vorhang“ alte Arbeitsbeziehungen wieder neu zu beleben.

Vollständigkeit kann der Leser von Begegnungen mit Brecht also nicht erwarten. So kommen auch Menschen, die Brecht am nächsten standen, in dem Buch nicht zu Wort: Helene Weigel, die Tochter Hanne, der Sohn Stefan, die Tochter Barbara, die Eltern des Dichters, die Mitarbeiterin Margarete Steffin, die Schauspielerin Carola Neher oder Karl Korsch, den Brecht seinen marxistischen Lehrer nannte. Trotzdem ist Begegnungen mit Brecht ein lesenswertes Buch, es sichert nicht nur die Spuren von Begegnung sondern räumt Vorurteile aus dem  Weg. Zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente ermöglichen neue Wertungen.



Bewertung:    



Mario Bartsch - 4. März 2014
ID 7645
Erdmut Wizisla (Hrg.) | Begnungen mit Bertolt Brecht
Taschenbuch, 399 Seiten
Suhrkamp Verlag, 2014
12,00 Euro
ISBN 978-3518464717



Siehe auch:
http://www.suhrkamp.de/buecher/begegnungen_mit_bertolt_brecht-_46471.html


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