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Rezension

Arnon Grünberg | Couchsurfen und andere Schlachten

Reportagen
Diogenes Verlag, 2013
ISBN 978-3-257-06870-2



Der Fremde bleibt fremd, der Autor Spion und

Performancekünstler


Auf annähernd fünfhundert Seiten präsentiert Arnon Grünberg neunzehn Reportagen, die ihn unter anderem couchsurfend nach Mittel- und Osteuropa, undercover als Zimmerjungen in ein bayrisches Hotel oder als embedded journalist nach Afghanistan oder in den Irak geführt haben und unter anderen, mehr oder weniger fadenscheinigen Gründen in die Ukraine, nach Rumänien oder nach Transnistrien. Mit anderen Worten: dieser Band ist eine Zusammenstellung von investigativen Reisen in die Krisenherde der Welt und in prekäre Lebenswelten in weniger entlegenen Erdteilen. Das klingt vielversprechend.

In dem Vorwort, einem Gespräch mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow, heißt es:


„Ich bin Spion oder Amateuranthropologe, aber auch ein Performancekünstler und letztlich doch immer wieder Autor – mit großem Respekt vor den Menschen, über die ich schreibe. Dabei bin ich mir des Machtgefälles zwischen Autor und Beschriebenen durchaus bewusst: Wer andere beschreibt, übt Macht über sie aus. […] Vom Naturell her bin ich eher Melancholiker als Aktivist […]. Meine Absichten gehen eher dahin, zu analysieren, als zu verändern. […] Letztendlich sind all diese Reisen auch Versuche, den anderen kennenzulernen, doch nicht als Fremden, sondern als jemanden, der man selbst hätte sein können.“ (S. 12)


Es sind wohl diese Aussagen, an denen sich Arnon Grünbergs Sammelband von Reportagen messen lassen muss.

Grünberg hat ohne Zweifel große Genauigkeit und Sorgfalt bei der Auswahl seiner Informanten walten lassen – und ist immer bemüht, alle Parteien sprechen zu lassen. So sind seine Reportagen eigentlich ein Fundus an wertvollen Beobachtungen und Gesprächen. Dennoch haben sie einen Schönheitsfehler: Obgleich Grünberg wirklich kein Aktivist ist – er beobachtet, er animiert nicht zur Veränderung – , er ist sehr wohl ein Kommentator, und daher leider auch: ein schlechter Amateuranthropologe.

Was die Reportagen „trägt“, ist ein durchgehend ironischer, spöttischer, frotzelnder Zungenschlag, den manch ein Leser durchaus als kurzweilig empfinden mag. An manchen Stellen fragt man sich allerdings, warum man das jetzt eigentlich lesen muss. So werden an allen Enden der Welt sexuelle Anspielungen oder sexuell konnotierte Begebenheiten eingestreut, nach deren tieferer Bedeutsamkeit man vergeblich sucht. Nun denn. Sex sells.

Viel gravierender sind Bewertungen des Beobachteten, wo es unmittelbar um wichtige politische oder soziale Fragen geht. So wird Grünberg beispielsweise berichtet, kurdische Kämpfer würden vom Mossad ausgebildet. Hierzu schreibt Grünberg:


„Gerüchte, wie ich sie seit meinem ersten Irakbesuch im Jahr 2008 regelmäßig zu hören bekomme. Hinter jedem Gebüsch im Nahen Osten lauert eine Verschwörungstheorie.“ Und wenig später: „Einigen zufolge haben die Kurden nun aber offenbar doch einen Freund gefunden: den Mossad.“ (S. 229)


Das sind freilich keine eigentlich politischen Statements, die der Autor hier abgibt, doch klar ein Urteil über den Wahrheitsgehalt der Aussagen seiner Informanten – und zwar nicht zuletzt im Dienste des leichtgängigen, unterhaltsamen Tones der Reportagen. In Anbetracht der Tatsache, dass er vermutlich auch keinen Beleg für die Falschheit der Aussage seiner Informanten hat, wäre es doch ratsam, diese Informationen schlicht als Meinungen stehenzulassen – und den Leser sein eigenes Urteil fällen zu lassen.

Dies ist nur ein – sehr klares – Beispiel für eine dezidierte Bewertung durch den Verfasser Grünberg. In diesem selben Stile jedoch frotzelt sich Grünberg durch seine sämtlichen Reportagen, bei denen man sich insgesamt des Gefühls nicht erwehren kann, die ganze Welt sei ein Affenhaus, das allein für den Herrn Grünberg zum Bestaunen da ist. So ist es aber nicht, und dieser Ton ist in moralischer Hinsicht deplaziert. Wenn Grünberg im Vorwort von seinem Respekt vor den Menschen, über die er schreibt, spricht, so ist davon seinen Texten nicht viel anzumerken – jenseits von ein paar eingestreuten selbstreflexiven Kommentaren hier und dort. Grünberg nutzt seine Reiseerlebnisse – und vor allem ganz konkret: seine Informanten – weidlich aus, um am Ende doch bloß in sehr subjektiver Form kulturelle Stereotypen über entlegene und weniger entlegene Flecken dieser Erde zu reproduzieren. Es ist letztlich eine Art (zugegebenermaßen subtile) literarische Freakshow, die der Verfasser inszeniert – und so ein Publikum beglückt, das sich gerne dem Voyeurismus hingibt, um am Ende wieder einmal festzustellen: Schön ist’s doch daheim! Der Fremde bleibt fremd.

So lautet das Fazit: Einen ethnographischen Blick und Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den gewonnen kulturellen Daten sucht man in diesen so genannten Reportagen vergeblich, und sie enttäuschen somit als Reportagen, so kurzweilig man die Texte auch finden mag. Das ist schade – gerade weil Grünberg so viele interessante und wertvolle Begegnungen und Erfahrungen gehabt, gemacht hat, deren Wert man hätte gerechter werden können. In der Form der Darstellung jedoch erweist sich Arnon Grünberg eben doch eher als Spion und Performancekünstler denn als Amateuranthropologe und verantwortungsvoller Journalist.



Bewertung:    



Ann-Kristin Iwersen - 16. März 2014
ID 7677
Arnon Grünberg | Couchsurfen und andere Schlachten
Pappband, 480 Seiten
€ (D) 21.90 / (A) 22.60 / sFr 29.90
Diogenes Verlag, 2013
ISBN 978-3-257-06870-2


Siehe auch:
http://www.diogenes.de/leser/katalog/a-z/c/9783257068702/buch


Post an Dr. Ann-Kristin Iwersen



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