Reisen im Zug
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Früher, als ich meine Oma nach ihrem jährlichen Oster-Aufenthalt bei uns wieder zum Zug bringen durfte, hat sie rigoros darauf bestanden, eine halbe Stunde vor Einfahrt des D-Zuges am Bahnsteig zu stehen, um erwartungsvoll dem Zug entgegen zu blicken. Man konnte ja nie wissen, was auf dem 500-Meter-Weg von unserem Haus zum Bahnhof alles passieren konnte, und dann, sagte die Oma, wären wir dankbar für die paar extra Minuten. „Du brauchst ja nicht zu warten, bis er kommt“, meinte sie. Ihr Blick sagte aber etwas anderes. Ich wartete und schaute mit ihr in die Richtung und wusste, dass sie die Zugverpflegung sofort aus ihrer Handtasche holen und genüsslich auspacken würde, sobald sie auf einem Platz in Fahrtrichtung saß und ihr ein netter Mensch den Koffer oben ins Gepäcknetz verfrachtet hatte.
Damals haben wir unsere Oma belächelt, aber das war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der ich morgens wie eine Verrückte aus dem Haus rannte, wenn der Zug schon dabei war abzubremsen, weil er sich unserem kleinen Bahnhof annäherte, um dann direkt quietschend vor dem Bahnhofshäuschen zum Stehen zu kommen. Das war die Zeit, in der man auch nach dem Anpfiff des Schaffners noch auf den Zug aufspringen konnte, es musste einem nur jemand die Türe aufhalten. Damals hatte ein Zug höchstens mal im Winter Verspätung, wenn die Schranke am Bahnübergang klemmte oder der Wächter verschlafen hatte, weil er am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hatte.
Wer heute in der Großstadt einen Zug nehmen muss, wird die 30-Minuten-Oma-Sicherheitsmarche immer einplanen. Denn das Auto könnte nicht anspringen oder in einen Unfall geraten, es könnte über Nacht viel Schnell gefallen sein, und die Winterreifen lagen noch im Keller, der Bus könnte Verspätung haben, die U-Bahn ganz ausfallen oder einer Elektrizitätspanne zum Opfer fallen.
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In der Anthologie Wenn einer eine (Zug-)Reise tut... erzählen 59 Schreibende in unterhaltsamen Kurzgeschichten ihre ganz persönlichen Bahnerlebnisse vor und während der Zufahrt. Da geht es um neue Bekanntschaften, um Mord, um Trauer, um Liebe, um Happy Ends oder um lebensverändernde Zufälle, wenn man einen Zug verpasst, weil der Wecker nicht geklingelt hat, um spannende Geheimnisse und um Reservierungsprobleme, weil die Plätze nicht ausreichen oder die Reisenden sich auf die falschen Plätze setzen. Aber nicht immer arten die amüsanten und zum Teil verrückten Geschichten in Kritik an der Deutschen Bahn aus. Kurzum, es geht um alle denkbaren menschlichen und technischen Verirrungen und Verwirrungen, die in Zügen generell in Deutschland, in Italien oder anderswo auf der Welt auftauchen können. Der Fantasie und dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt, und Zugreisende finden ihre ganz persönlichen Déjà-vu-Erlebnisse in dieser zweibändigen, kurzweiligen Anthologie, die im Sommer d.J. im Pohlmann Verlag erschienen ist und in jede Jacken- oder Handtasche passt.
Christa Blenk - 1. Oktober 2023 ID 14413
https://www.pohlmann-verlag.de
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