Die Wogen
der Themse
und des Lebens
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Bewertung:
Vor über hundert Jahren gab es in Radcot ein Wirtshaus, das direkt an der Themse lag. Das Swan war berühmt dafür, dass dort Geschichten erzählt wurden. Der Wirt Joe Bliss war ein kränklicher Mann, und während seine kerngesunde Frau Margot den Schankbetrieb aufrecht erhielt, faszinierte Joe seine Gäste mit Erzählungen, damit sie reichlich zechten, während sie lauschten. Der Fluss und die Jahreszeiten spielten eine große Rolle, und über die Jahrhunderte wurden viele Legenden ersonnen. Die wundersame Geschichte von dem kleinen Mädchen, das tot und dann doch wieder lebendig war, geschah Ende Dezember 1887 am Tag der Wintersonnenwende. Die längste Nacht des Jahres „ist eine Zeit der Magie, und wie die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen auch die Grenzen zwischen den Welten. Träume und Geschichten vermischen sich mit Erlebtem, die Toten und die Lebenden laufen einander bei ihrem Kommen und Gehen über den Weg, Vergangenheit und Gegenwart berühren und überschneiden sich.“ (Diane Setterfield, Was der Fluss erzählt, S. 17).
Ein schwer verletzter Mann kommt in jener Nacht mit einem toten Mädchen auf dem Arm ins Swan gestürmt und bricht dort zusammen. Man holt sofort die tüchtige Krankenschwester Rita herbei, die bei der Kleinen nur den Tod feststellen, den bewusstlosen Mann aber wieder zusammenflicken kann. Irgendein Instinkt bringt Rita dazu, noch eine Weile in dem kalten Zimmer zu bleiben, in dem das Mädchen aufgebahrt worden war, als sie plötzlich ihren Puls spüren kann. Ein Wunder ist geschehen, für das Rita keine medizinische Erklärung parat hat. Das Ehepaar Vaughn, dessen Tochter Amelia vor zwei Jahren entführt worden war, erkennt in dem Kind ihr eigenes wieder und nimmt sie zu sich. Es gibt aber noch andere, die die Kleine für sich beanspruchten und weil sie nicht sprechen kann, ist eine Klärung des Sachverhalts nicht möglich.
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Die britische Autorin Diane Setterfield lässt in ihrem Roman Was der Fluss erzählt einen ganzen Mikrokosmos in und um Radcot entstehen. So wie die Themse aus ihren Nebenflüssen zu einem großen Strom zusammenfließt, verbindet Setterfield die Leben vieler Menschen am Fluss zu einem großartigen Gesamtwerk, das Anteile eines Historienromans, eines Thrillers und eines Märchens geschickt in sich vereint. Dabei gelingt ihr eine sehr anschauliche und überzeugende Beschreibung vieler verschiedener Charaktere, die den Leser und die Leserin in ihren Bann ziehen. Jeder der Zecher im Swan hält sich für einen Experten, was Geschichten angeht, und so wird viel gefachsimpelt. Setterfield bezieht damit auch die Leserschaft in den Erzählprozess mit ein, sodass man fast glauben könnte, den Roman mitzugestalten. „Selbst nach monatelangem Erzählen und Weitererzählen zeichnete sich noch immer keine schlüssige, einhellige Fassung ab. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte... blieb rätselhaft und unvollendet.“ (S. 262f).
Was der Fluss erzählt ist zwischen den Mythen und dem Aberglauben des ausgehenden 19. Jahrhunderts, aber auch der erwachenden Wissenschaft in der Zeit Darwins angesiedelt. Im Zentrum stehen die Krankenschwester Rita und der Verletzte, der sich als der Fotograf Henry Daunt entpuppt. Der war unterwegs, um Fotografien vom Flusslauf der Themse zu machen und daraus einen Bildband zu erstellen, wobei er in der Dunkelheit verunglückte und durch Zufall das Kind fand. Beide versuchen, das Schicksal des Mädchens anhand von Fakten und mit Vernunft zu klären. Andere glauben eher an Geister und dass der alte Quietly damit zu tun hat. Der hatte einmal seine ertrunkene kleine Tochter aus dem Reich der Toten zurückgeholt und hat dafür den Preis seines eigenen Lebens und seines Todes bezahlt. Seitdem stakt er auf der Themse herum und rettet in Not geratene Menschen. Wessen Zeit noch nicht gekommen ist, wird ins Reich der Lebenden zurückgebracht, die anderen nimmt Quietly zum jenseitigen Ufer mit.
Derweil behauptet der zwielichtige junge Robin Armstrong, dass das Mädchen seine Tochter Alice wäre, kann es aber nicht richtig beweisen. Sein Vater Robert, ein kompromissloser Gutmensch, geht der Sache nach. Vater Robert ist der illegitime Sohn eines reichen Mannes und seiner schwarzen Dienstmagd. Er durfte eine gute Ausbildung genießen und hat vorzügliche Manieren, was ihm angesichts seiner sichtbar anderen Hautfarbe nicht immer nützt. Er behandelt seine Mitmenschen, seine Familie und sogar seine Tiere mit Liebe und Respekt und glaubt, seinen geliebten Stiefsohn Robin auf den Pfad der Tugend zurückbringen zu können, wenn er ihn nur genug liebte. Da Setterfield das unkommentiert aus Roberts subjektiver Sicht schildert, bildet man sich als LeserIn seine eigene Meinung bzw. hegt Zweifel.
Das ist auch bei Rita so. Der Fotograf Daunt und sie kommen sich näher und versuchen als einzigem Anhaltspunkt der damaligen Entführung der kleinen Amelie auf den Grund zu gehen. Es ist klar, dass die beiden sich lieben, doch Rita beharrt mit 36 Jahren auf ihrer Jungfernschaft. Als Daunt sie auf die Unverblümtheit ihrer Sprache hinweist, antwortet sie: „Ich verbringe den Großteil meines Arbeitsalltags mit den Konsequenzen jener Aktivitäten, die zwischen Mann und Frau stattfinden... Wenn Sie auch nur im Entferntesten wüssten, womit ich es in diesem Beruf zu tun habe... Sie werden es nie zu Gesicht bekommen – ich sehe das ständig.“ (S. 386) Auch bei dieser Liebesgeschichte lässt uns Setterfield Raum, uns eigene Gedanken zu machen oder uns zu wünschen, dass die Liebe am Ende vielleicht doch siegt (und mit unserem Abstand von über 130 Jahren über den rechtlosen Status vieler Frauen dieser Zeit nachdenkt, ohne dass Setterfield feministische Töne anschlagen müsste).
Aber es gibt auch Menschen, die sich für ein Leben jenseits der Liebe entschieden haben, und die Themse spielt als Handlungsort durchgehend eine große Rolle... Mit folgenden Worten verabschiedet uns Setterfield: „Und jetzt... ist die Geschichte zu Ende... Du hast Dich hier lange genug getummelt und, davon abgesehen, doch bestimmt auch eigene Flüsse, die Deine Aufmerksamkeit verdienen.“ (S. 568). Doch die Themse, die Menschen und die Ereignisse am Fluss werden der Leserschaft dieses wundervollen Romans wohl noch lange in Erinnerung bleiben.
Helga Fitzner - 14. November 2020 ID 12598
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Was der Fluss erzählt von Diane Setterfield
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