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Bewertung:
Wie weit darf dichterische Freiheit gehen? Der letzte Auftrag spielt zur Wendezeit, liegt also gut dreißig Jahre zurück, und dies Epoche ist vielen von uns noch in guter Erinnerung. Tatsächlich stoße ich neben fiktiven Personen auf bekannte Namen: Alexander Schalk-Golodkowski, Günter Schabowski oder Erich Honecker - nun, die haben damals eine Rolle gespielt, dürfen und sollten auch genannt werden. Ob sie jedoch als konkret handelnde Figuren auftreten dürfen, ein Eigenleben entwickeln und in wörtlicher Rede sprechen, die keineswegs Zitat ist, ist für mich grenzwertig. Nun mögen diese Dialoge und Selbstreflektionen gut recherchiert sein und den Vorgängen der damaligen Zeit entsprechen, dennoch ist hier für mich nicht sauber getrennt – wir bewegen uns in einem fiktiven Roman, und die Politiker könnten aus meiner Sicht auch indirekt, z.B. über Gespräche dritter ins Spiel gebracht werden.
Endgültig unseriös wird der Roman jedoch durch den fiktiven Wladimir Putin, der zur Zeit der Wende als KGB-Offizier in Dresden stationiert war. Dies entspricht den Fakten, doch sein Umgang mit Kollegen, seine Überlegungen und Strategien, seine Einladung zum Abendessen eines neuen Mitstreiters und der Verlauf des Abends sind für mich Unzulässigkeiten. Hier werden reale Personen mit fiktivem Verhalten verwoben. Was ist davon belegt und was nicht?
Aus meiner Sicht hätte der Autor diesen effektheischenden Schachzug nicht nötig gehabt. Er hat sich intensiv mit der Zeit und den Hintergründen beschäftigt. Ob es die ominöse Operation "Strahl" wirklich gibt oder gab, bei der der KGB Gelder außer Landes geschafft haben soll, bleibt offen.
Noch eine zweite Sache hat mich an dem Buch gestört. Die DDR wird ausschließlich negativ dargestellt. Unschuldige Bürger werden aus der Straßenbahn geholt und müssen sich auf die Straße legen, ein Stasioffizier tritt in seiner Brutalität sogar nach einem bettelnden Spatzen, und die Frühchen auf der Säuglingsstation werden der Statistiken zuliebe geopfert, denn es gilt die Säuglingssterblichkeit zu beschönigen. Die fiktive Annie, die dort arbeitet, berichtet ihrem Freund:
"Auch von ihr war verlangt worden Kinder mit zu wenig Gewicht zum Sterben in einen Behälter zu legen und den Deckel zu schließen. Sie lagen in Blut und Fruchtwasser, zu schwach, um den Kopf daraus zu heben. Die Kinder bewegten sich in ihrem Todeskampf, manchmal über Stunden. Die Deckel klapperten. Und man verlangte von ihr, den jungen Müttern, die voller Hoffnung auf ihr frischgeborenes Kind warteten, ins Gesicht zu lügen, obwohl sie wusste, dass es im gleichen Gebäude mit dem Tod kämpfte, von der Klinikleitung dazu verurteilt." (S. 75)
Eine grausame Schilderung, die aber an dieser Stelle einer ethischen Einordnung bedurft hätte, denn nicht jede extreme Frühgeburt ist überlebensfähig.
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Titus Müller ist 1977 in der DDR geboren, ich selbst stamme aus dem Westen, lebe heute in Halle. Ich kann nicht beurteilen, wie das Leben in der DDR war, und Freunde und Bekannte berichten oft recht Unterschiedliches. Aber der Spruch, dass "wohl nicht alles schlecht war", scheint für mich seine Berechtigung zu haben, auch wenn er aus Sicht von Titus Müller wohl nicht zutrifft.
Ein Spiegel-Bestsellerroman besagt, dass die Verkaufszahlen eines Buches hoch liegen. Mich würde interessieren, aus welchen Motiven Leser dieses Buch kaufen. Es ist spannend und gut geschrieben, zugegeben, doch darf das nicht auf Kosten der Seriosität gehen. Ich würde das Buch nicht zur Lektüre empfehlen.
Ellen Norten - 9. September 2023 ID 14380
Heyne-Link zum
Letzten Auftrag von Titus Müller
Post an Dr. Ellen Norten
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