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nachDRUCK # 2

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Roman

Hang-out-

moments till

it´s over





Bewertung:    



„Der Zerfall der Wirklichkeit dauerte an. Manchmal träumte ich davon, ein Theaterstück zu unterbrechen, die Spielenden und das Publikum des Saales zu verweisen, um danach allein, ungestört, durch das Bühnenbild zu wandeln. Es gäbe keine Handlung mehr, keine überraschende Wendung, kein Drama, nur eine Anordnung von weißen Steinen. Strahlig gestreifte Patellen.“ (Stephan Roiss, Lauter, S. 197)


Die Zeit dehnt und verlangsamt sich, wenn Leon sein Selbst wahrnimmt. Die Selbstgewissheit des Ich-Erzählers im Alter von Mitte dreißig scheint erschüttert. Leon spürt einer Ausweitung in der eigenen Wahrnehmung und seinem Verständnis von Gegenwart nach. Seine Mutter starb. Sie ist nun unumkehrbar verschwunden, doch Leon erinnert sich. Alles erscheint als Wechselwirkung. Jedes Handeln und Nicht-Handeln hat und hatte Folgen. Der Roman Lauter erforscht Erinnerungen und Veränderung. Er regt dazu an, darüber nachzudenken, welche Erinnerungen es wert sind bewahrt zu werden.

Kann man der Gegenwart irgendwann wieder mit gewohnten Gleichmut begegnen, wenn man schwerwiegende Verluste erlitten hat? Der trauernde Ich-Erzähler, freiberuflicher Radiomoderator und Punksänger, erhält unerwartet bald auch eine Krebsdiagnose. Seine Gefühlslage liegt zwischen Wut und Verzweiflung. Beides versucht er zu betäuben. Er erinnert sich an Orte der Kindheit. Voller Nostalgie denkt er an gemeinsame Erlebnisse mit „Nachbarsbuben“ (S. 56): „


"Die Zukunft malten wir uns mit Filzstiften und Uferschlamm aus, träumten davon, Räuberhauptmann, Rocksänger, Multimillionär zu werden.“ (S. 56)


Eindrückliche selbstreflexive Gedanken erscheinen dabei oftmals ohne inhaltlichen Sinn oder fragmentarisch:


„Seinlassen. Nichts weiter. Meine Blase ist voll. Ich bin so müde. Gegenwart. Gleichmut.“ (S. 165)


Der heute 42-jährige Österreicher Stephan Roiss stand mit Lauter auf der Longlist für den Schweizer Buchpreis. Er arbeitet mit unterschiedlich versetzt gedruckten Absätzen. Auch inhaltlich verwebt er disparate Schilderungen übergangslos zu einem dichten Geflecht. Leon, der sich anfangs noch in Kuba aufhält, wird von wohlmeinenden Freunden nach Italien eingeladen, nach Venedig und dann auf die Vulkaninsel Stromboli. Reiseerfahrungen, Begegnungen und Erinnerungen stehen fortan neben vorsichtig skizzierten Imaginationen. Aufmerksame Beobachtungen geben dabei dem Banalen, Alltäglichen, sozusagen Prosaischen Raum. Auf Leons Strecke formen sich neue Geschichten, die etwa auch bei Venedig stets das Verscheiden oder den Untergang im Blick haben:


„Mittlerweile gab es mehr Touristenbetten als Einwohner. Die Feriendomizile reicher Ausländer standen meist leer, der Ausverkauf hielt an, Konzerne bestimmten die Stadtplanung. Der Wellenschlag der Frachter und Kreuzfahrtschiffe ramponierte die Ufer, Abgase fraßen die Fassaden auf. Venedig zerbröckelte, verrottete, ging unter.“ (S. 121)


Leon verläuft sich in Venedig. Aus vertrauten Umgebungen entwurzelt, sucht er in der Fremde nach neuen Verbindungen. Er erfährt in ihm noch unbekannten Räumen flüchtige, spontane Begegnungen, etwa mit der Zufallsbekanntschaft Paolo. Es ergeben sich fließend Verbindungslinien durch geteilte Wege, die durchaus auch innig werden.

Leider gibt Roiss diesen emotionalen Erfahrungen wenig Raum, wenn er dem Ich-Erzähler beim Besuch von Parkanlagen in Palermo eine Politikverdrossenheit vor Ort grimmig fokussieren lässt. Gedanklich stellt Leon dabei eine res publica (Gemeinwesen, Staat) einer mano cornuta (Hörnergeste, "Rock On"-Zeichen) gegenüber:


„Eine alte Frau ließ ihren Hund mitten auf den Zebrastreifen kacken, achtlos geparkte Vespas blockierten den Gehsteig. Ich lerne den trägen Eigensinn der Menschen als eine Form des Widerstands zu betrachten. Byzantiner, Araber, Normannen, Spanier, Bourbonen hatten nicht nur im Stadtbild Spuren hinterlassen. Es war, als sagte man sich: Wenn wir schon immerzu fremdbestimmt sind, dann machen wir es den Regierenden wenigstens so schwer wie möglich. Gemeingut war Freiwild. Aus dem Teich der Villa Giulia waren immer wieder Schwäne verschwunden: Das Oberhaupt einer armen Familie hatte sie geraubt, geschlachtet und verkocht. Parkbänke waren zertrümmert und demontiert. So umsichtig die privaten Gärten und Balkone gepflegt wurden, so achtlos behandelte man die öffentlichen Grünanlagen. Während die Fassaden bröckelten, waren die Wohnungen dahinter blitzblank.“ (S. 208f.)


Detailgenaue Beschreibungen, während sich Leon durch verschiedene Orte bewegt, zeigen beobachtete Missstände auf. Dies hat durchaus Längen und treibt die Handlung kaum voran. Kühle Betrachtungen stehen inneren Empfindungen gegenüber, die mitunter von einem Verlangen nach Gesellschaft und Intimität erzählen. Leon sucht nichtsdestotrotz Kontakt zu daheimgebliebenen Vertrauten. Wir erfahren, dass der wohlhabende Vater Hoffnungen auf Leon setzt. Trotz der Akte des Widerstands des Ich-Erzählers gegen den wohlmeinenden Vater, regen sich bei Leon auch Gefühle einer Verbundenheit zu ihm. Am Ende bleibt die Frage offen, wohin Leon als nächstes gehen wird. Der Leser hat dann jedoch auch schon ein bisschen das Interesse an dem Protagonisten, der allzu selten Gefühle preisgibt, verloren.


Ansgar Skoda - 26. Juni 2025 (2)
ID 15330
Jung und Jung-Link zum Roman Lauter


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