Theorie und
Erfahrung
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Bewertung:
Wir sind schon richtig drinnen im Jahr 2022, und mich plagt das Gewissen wegen der Bücher, die im Vorjahr liegen geblieben sind und die ich nicht einmal erwähnt habe. Also seien hier, bei aller Abneigung gegen die zunehmende Listen-Manie, wenigstens die Autor*innen und die Titel der letzten Monate von 2021 genannt, denen Aufmerksamkeit zu wünschen wäre:
Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg
Stefan Heym: Flammender Frieden
Hugo Wiener: Der Blöde und der Gscheite
Alexander Moritz Frey: Der Mensch und andere Erzählungen
Franz Hohler: Der Enkeltrick
Angelika Meier: Die Auflösung des Hauses Decker
Soweit die vertraute weiß und männlich dominierte Auswahl. Aber soll ich Abstriche machen bei meinem Qualitätsmaßstab, um einer quotenorientierten Erwartung zu entsprechen? Zugegeben: meine Kriterien sind von meinen Erfahrungen, meiner Biographie, meinen Schmerzen und meinen Glücksmomenten geprägt. Das gilt freilich auch für jene, die zu ganz anderen Ergebnissen kommen und meine Vorschläge deshalb verdammen. Der Fehler – ihrer und der meine – läge darin, die eigene Sicht absolut zu setzen und deren Bedingtheit zu ignorieren.
In einem Interview hat Julian Fellowes, der Autor der ebenso konservativen wie hervorragenden englischen Fernsehserie Downton Abbey, darauf hingewiesen, dass für die britischen Linken der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht die Russische Oktoberrevolution, sondern der Irische Unabhängigkeitskrieg das entscheidende und meistdiskutierte Ereignis war. Die Oktoberrevolution hat global betrachtet ohne Zweifel schwererwiegende und weiterreichende Folgen gehabt, aber für die Briten waren die Auswirkungen der irischen Revolution nicht nur geographisch näher am eigenen Leben.
Dass die eigenen Erfahrungen Sichtweisen und Bewertungen bestimmen, gilt beispielsweise auch für die aus europäischem Blickwinkel irritierende Tatsache, dass viele Inder im Zweiten Weltkrieg mit Hitler sympathisierten, weil für sie nicht die Deutschen und auch nicht der Holocaust mit leidvollen Assoziationen verbunden waren, sondern der britische Kolonialismus. Ähnlich verhält es sich auch heute noch und wieder, wenn die Verbrechen des Kolonialismus verstärkt zur Sprache kommen. Und auch Schwarzen, die in Europa oder in Nordamerika geboren wurden und aufgewachsen sind, stellen sich viele Probleme mit einer anderen Gewichtung dar als ihren weißen Nachbar*innen. Die Wahrheit ist: wenn Weiße ihnen ihre Sicht aufdrängen wollen und sie gar der Relativierung der eigenen Verfehlungen bezichtigen, übernehmen sie ungewollt das kolonialistische Muster der Bevormundung.
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Der von Evein Rosa Obulor herausgegebene Sammelband Schwarz wird großgeschrieben dient zunächst der Selbstverständigung Schwarzer Frauen in Deutschland, die, wie schon der Titel ankündigt, das Attribut „schwarz“ entgegen der üblichen Orthographie mit einem großen Anfangsbuchstaben sehen wollen. Aber er ist auch ein vorzügliches Angebot an sogenannte Weiße, sich mit dem Denken von Schwarzen, also mit einer abweichenden Norm, vertraut zu machen. Das wird ihnen nicht leicht gemacht. Die Fragestellung des Rassismus wird nämlich verknüpft mit den Konsequenzen von Spielarten des Geschlechts, des Genders und der sexuellen Orientierung. Hier kommen also Menschen zu Wort, die gleich doppelt diskriminiert sind. Um die Lektüre noch komplizierter zu machen, bedienen sich die Autorinnen eines mit Neuschöpfungen prassenden Vokabulars, das im internationalen Diskurs thematisierte Differenzierungen aufgreift, aber oft zugleich dem seit einem halben Jahrhundert grassierenden Irrtum erliegt, man könne durch Sprache und Terminologie verändern, woran man im tatsächlichen Leben, in der Ökonomie, in der Gesellschaft gescheitert ist. Doch auch hier gilt: zunächst muss man solche Konzepte kennen, ehe man sie, mit Gründen, kritisiert.
Es kann nicht überraschen, dass die Autorinnen in ihren Beiträgen grundsätzliche, einzelnen Wissenschaftsdisziplinen verpflichtete Überlegungen und Theorien auch hier mit eigenen Erfahrungen verknüpfen. Worüber sie sprechen, ist nicht akademischer Neugier entsprungen, sondern existentieller Not, manchmal, selten, auch Erfolgserlebnissen. Die modische Suche nach der „Identität“ – wo wäre sie begründeter als bei Schwarzen Menschen, die unter den dominierenden Weißen aufgewachsen sind, um es pointiert zu sagen: unter den Kindern und Enkeln einer Generation, die die nationalsozialistische Rassenideologie gierig in sich aufgesogen hat wie eine kühle Limonade an einem heißen Sommertag.
Shaheen Wacker bringt es auf den Begriff und obendrein in den größeren Zusammenhang:
„In Deutschland erhalten vorrangig Menschen Schutz, die Eigentum besitzen, die deutsche Staatsbürgerschaft haben und weiß sind.“
Wer wollte dem widersprechen? Und wer wehrt sich dagegen, sofern er, sie, they zu den Privilegierten gehört? Schwarz wird großgeschrieben. Wird es auch groß gelesen?
Thomas Rothschild – 15. März 2022 (2) ID 13520
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Schwarz wird großgeschrieben
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