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Es ist meine Überzeugung, dass es gegen die guten Sitten verstößt, das Buch eines Freundes oder eines Menschen, dem man zu Dank verpflichtet ist, zu besprechen, zumal wenn man diese Verpflichtung verheimlicht. Andererseits gilt auch, was der Schweizer Autor Rudolf M. Lüscher einmal bemerkt hat: „Wenn ein Freund ein Buch schreibt, dann gehört das Buch in die Freundschaftsgeschichte, und zu einer Geschichte gehören zwei Stimmen. Buch und Rezension sind die öffentliche Seite einer Freundschaftsgeschichte, Objektivität überlassen wir den Statistikern.“ Hinzu kommt, dass die zunehmende Literaturfeindlichkeit kein Erbarmen kennt. Wer, wenn nicht Freunde, sollte ein Buch, das nicht in einem der großen Publikumsverlage erschienen ist, rezensieren? Wer, wenn nicht Freunde, sollte überhaupt auf die Existenz eines solchen Buchs aufmerksam machen?

Volker Klotz ist nicht nur ein Freund. Er war über ein Vierteljahrhundert mein „Vorgesetzter“. Ich habe es ihm und meinem vorausgegangenen Chef Klaus Baumgärtner zu verdanken, dass ich mein Berufsleben nicht als Taxifahrer fristen musste und bis zur Emeritierung von Klotz in einem erfreulichen, vom üblichen akademischen Milieu deutlich unterschiedenen Umfeld arbeiten durfte. Dass ich mich trotzdem nicht gedrängt fühlte, ihm nach dem Mund zu reden, dass ich es auch jetzt und hier nicht tu, weiß er selbst aus diversen Meinungsverschiedenheiten, und der Leser mag es mir bitte bis zum Beweis des Gegenteils glauben. Wenn es andererseits belegbare Übereinstimmungen zwischen Ansichten des Buchautors und seines Rezensenten gibt, so mag das auch das Ergebnis häufiger Diskussionen sein, es verdankt sich jedoch gemeinsamen Grundüberzeugungen zur Gesellschaft im allgemeinen und zum akademischen Milieu im besonderen und die sich, verkürzt, mit der Chiffre 1968 kennzeichnen ließen. Das ist es, was Volker Klotz, der dieser Tage 90 wurde, vor der überwältigenden Zahl seiner Berufskollegen auszeichnet: dass er die Lehren aus dem Widerstand gegen den „Muff von 1000 Jahren“ nicht verdrängt und die Konsequenzen nicht vergessen hat. Er war nur der Amtsbezeichnung nach ein Ordinarius. Dafür blieb er, was die wenigsten Lehrstuhlinhaber vor 1968 waren und heute sind: ein Demokrat im politischen und hochschulinternen Zusammenhang.

Volker Klotz ist ein Virtuose der verschnörkelten Sprache – jedenfalls nach seiner Dissertation Geschlossene und offene Form im Drama, der meistverkauften literaturwissenschaftlichen Arbeit im deutschsprachigen Raum. Er liebt das Wortspiel, fahndet nach Doppeldeutigkeiten und etymologischen Überresten. Sein Stil ließe sich barock nennen, was auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein scheint zur Gepflogenheit des Wissenschaftsjargons. Gerade der aber ist Klotz suspekt. An seine Stelle setzt er eine Sprache, die mit ihrem Gegenstand, der Literatur, zweierlei gemeinsam hat: Ästhetik und Eleganz, auch Witz. Das deutet auf einen Grundzug in Klotzens Wesen: den der Unangepasstheit, der Opposition, des Misstrauens gegen alles, „was immer schon so war“. Einen Vorgeschmack liefert der Titel des eben erschienenen mehr als 500 Seiten starken Kompendiums: Scheu vorm Artefakt? Abenteuer eines kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers.

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Das Buch weist die Struktur eines Reiseberichts auf: die einzelnen Kapitel tragen, nach einem knapp 200 Seiten langen Anlauf, der dem biographischen Schema folgt, zu einem großen Teil Ortsnamen in der Überschrift. In Wahrheit ist es eine Anthologie heterogener Essays, Polemiken, Erfahrungsberichte, Forschungsergebnisse, angerissener und nicht ausgeführter Entwürfe für eigenständige Vorhaben, verknüpft eben durch die skizzenhaft erzählte Biographie des Autors, seiner, meist mit Forschung und Lehre verbundenen, Reisen zumal und ihrer Vorgeschichte. Viktor Schklowski hätte an dieser ungewöhnlichen Form seine Freude gehabt. Dabei droht allerdings das Versprechen des Haupttitels aus dem Blick zu geraten.

Spanien liefert den Anlass zu einem Abschnitt über ein Bürgerkriegs-Sonett von Erich Arendt, Dänemark provoziert ein kurzes Kapitel über Ludvig Holberg, und der Gerechtigkeitssinn ist verantwortlich für Einschübe über Georg Knepler, Adolf Dresen und Werner Mittenzwei. Ausführlich beschreibt Klotz die hochschulpolitischen und didaktischen Neuerungen, die er angestoßen oder mitgetragen hat. Auch den detaillierten Plan eines exemplarischen Studienprojekts fügt Klotz ein. Wie aufsehenerregend derlei seinerzeit war, mag heute nicht ganz nachvollziehbar sein. Zum Teil wurden solche Modelle an anderen Orten nachgeahmt und gehören inzwischen zum universitären Alltag, häufiger noch wurden sie zurückgenommen zugunsten der alten Ordinarienuniversität oder der wirtschaftshörigen Drittmittel-Institution.

Für Klotz typische Formulierungen machen die Lektüre zum Vergnügen. Über die „Lügenmäuligkeit“ seines Freundes und Studienkollegen Herbert Heckmann und seiner selbst schreibt er: „Heckmanns aberwitzige Lügen waren, grammatisch gesprochen, reflexiv, die meinigen transitiv.“ Auf eigene Kosten zitiert er seine Tochter Sabine: „Mein Verdacht: er ist (wie die ganze Familie so nach und nach) auch deshalb aus der katholischen Kirche ausgetreten, um seinen eigenen Sermones ungestört zuhören zu können.“

Charakteristisch für Volker Klotz ist sein Argwohn gegenüber dem scheinbar Selbstverständlichen. Er gibt Antworten auf Fragen, die andere nicht stellen, weil sie in ihrer Oberflächlichkeit die Frag-Würdigkeit gar nicht erst erkennen. So etwa: Warum haben es ihm, Volker Klotz, ganz bestimmte Märchen in seiner Kindheit besonders angetan?

Übrigens: dieses Buch mit seinen Spielplätzen zwischen Budapest und Algier, zwischen Pisa und Barcelona, zwischen Århus und Wien könnte den Verdacht erregen, Volker Klotz sei nur selten am eigentlichen Ort seiner Berufstätigkeit, an der Universität Stuttgart gewesen. Ich kann mich an keinen einzigen Termin in 27 Jahren erinnern, an dem er seine Lehre hätte ausfallen lassen. Das unterscheidet ihn von zahlreichen Kollegen und seinen Nachfolgern. Er verlangte auch von uns, seinen Mitarbeitern, dass wir jede Seminarsitzung, die wir wegen des Besuchs bei einer Tagung während der Vorlesungszeit versäumt hatten, zu einem anderen Termin nachholten. Das fiel uns nicht schwer. Das Vorbild hätte uns andernfalls beschämt.


Thomas Rothschild – 28. Dezember 2020
ID 12673
Verlagslink zu Scheu vorm Artefakt?


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