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Erinnerungen

Der große

Michel Piccoli





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Es ist nicht frei von Ironie: Ausgerechnet Repräsentanten jener Berufsgruppe, deren Profession es ist, sich zu verstellen, Ansichten, die sie nicht teilen, als ihre eigenen auszugeben mit Worten, die andere für sie formuliert haben, werden bevorzugt nach ihren Meinungen zu Gott und der Welt, insbesondere zur Politik befragt. Ebenso gut könnte man sich von ihnen sagen lassen, bei welchem Metzger es die besten Würste gibt. Sie sind dafür nicht schlechter, aber auch nicht besser qualifiziert als der Blumenhändler, die Ärztin oder der Mathematiker von nebenan. Dahinter steckt wohl die irrige Annahme, dass Prominenz, woher sie auch stammen mag, ein Intelligenzmerkmal sei, das zu besonderen Einsichten befähige.

Das heißt freilich nicht, dass es keine Schauspieler*innen gebe, die, unabhängig von ihrem Beruf, kluge Dinge, auch zur Politik, zu sagen haben wie einzelne Menschen aller Berufe. So auch Michel Piccoli. Der vor vier Jahren verstorbene Franzose war nicht nur ein international angesehener Film- und Theaterschauspieler, sondern auch ein politisch engagierter Zeitgenosse. Seine politischen Überzeugungen schlugen sich auch in seiner eigentlichen Tätigkeit nieder. Er achtete darauf, an Filmen und Theaterstücken mitzuwirken, mit deren „Botschaft“ er übereinstimmte, sich identifizieren konnte, mit Regisseuren zu arbeiten, die zu den Giganten der darstellenden Künste zählen. Jetzt wurden unter dem Titel Ich habe in meinen Träumen gelebt die Korrespondenzen in der deutschen Übersetzung von Ralph Eue, der auch ein längeres Nachwort beisteuert, veröffentlicht, die er mit dem renommierten Filmkritiker Gilles Jacob geführt hat und die bereits 2015 im französischen Original erschienen sind. Zu Recht tragen sie die Gattungsbezeichnung Erinnerungen.

Gilles Jacob bleibt auch in diesem Dialog Filmkritiker. Er stellt nicht echte Fragen, sondern zeigt, wie schlau er ist. Er und sein Gegenüber tun nur so, als sprächen sie miteinander. Stellenweise erinnert das an den Witz von dem Mann, der zu seinem Gegenüber im Zug sagt: „Entschuldigen Sie, Sie kommen mir so bekannt vor. Sind Sie nicht ein kleiner Dicker mit Glatze und Schnurrbart?“ In Wahrheit haben die beiden Korrespondenten den Leser im Auge. Insofern ist dies ein anderes Genre als etwa das Interviewbuch von Truffaut mit Hitchcock. Dass beide Bücher in Frankreich entstanden, ist freilich kein Zufall. Anders als in Deutschland gibt es bei unseren Nachbarn eine lebendige Filmkultur, die dafür sorgt, dass Filmliteratur kein Nischenprodukt bleibt.

Michel Piccoli erzählt von seiner Kindheit, und es ist richtig erholsam, dass da weder von Vergewaltigung die Rede ist noch von grenzenloser Liebe. Das Normale kommt sonst so selten zur Sprache:


"Die Verbindung meiner Eltern war nicht besonders glücklich. Es gab keine Gewalt zwischen ihnen. Es gab auch kein großes Unglück. Sie mochten einander, aber sie langweilten sich. Ihre Beziehung machte nicht den Eindruck, auf tiefer Verbundenheit zu beruhen. Sie waren ein Mann und eine Frau, die sich aneinander gewöhnt hatten. Eines Tages sagte meine Mutter etwas, das mich sehr kränkte: 'Du solltest wissen, dass dein Vater und ich uns wegen dir nicht haben scheiden lassen.'"


Piccoli beschreibt, wie sein Interesse für das Theater nicht durch Theaterbesuche (im Krieg!) erwacht ist, sondern durch einen Lehrer. Einzelne Auskünfte mögen überraschend erscheinen:


"Ich war, vor allem am Theater, aber später auch im Kino, sehr sensibel dafür, wie ein Schauspieler mit der subtilen Macht seiner Stimme arbeiten kann."


Piccoli spricht von seiner Bewunderung für Peter Brook, für Luis Buñuel, für Godard, für Brigitte Bardot, für Marco Ferreri, für Romy Schneider und von seiner Antipathie für Jean-Louis Barrault oder Yves Montand.

Piccolis äußert sich erfreulich unsentimental über seinen Beruf:


"In den meisten Fallen sind die sogenannten 'großen Schauspieler' völlig uninteressant. Viele baden in der vulgären Befriedigung, dass man ihnen zusieht, und sie genießen nur sich selbst."


Und die Politik? Sie kommt in den Fragen von Gilles Jacob und in Piccolis Erinnerungen nur knapp vor:


"Ich wollte nie Mitglied einer politischen Partei werden wie einige meiner Freunde, die eine Zeit lang in der Kommunistischen Partei waren. Aber ich war immer empfindlich gegenüber krankhafter Unehrlichkeit, einem ekelhaften Verhalten, das nichts damit zu tun hat, ob man arm oder reich ist."


Der letzte Satz ist so sympathisch, so bescheiden ohne Pose wie es der Mensch und Schauspieler Michel Piccoli war:


"Einige der Filme, in denen ich mitgespielt habe, werden bleiben, ich aber bleibe nicht. Lieber wäre es mir, nicht zu sterben."


Sein Wunsch hat sich nicht erfüllt. Kein Wunder. Von den rund 200 Filmen aber, in denen Michel Piccoli mitgespielt hat, sind mehr als nur einige geblieben.


Thomas Rothschild – 18. Mai 2024
ID 14752
Verlagslink zu den Erinnerungen von Michel Piccoli


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