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nachDRUCK # 2

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Roman

Eingesperrte

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In fast jedem Märchen gibt es einen Prinzen. Doch Märchen spielen im Regelfall nicht im Knast. Vieles wirkt in Mario Cruz‘ Roman Der Prinz ein bisschen verklärt und artifiziell. Der Ich-Erzähler, der 20jährige Jaime, kommt zu Romanbeginn ins Gefängnis. Nach Ankunft erhält er in der Gemeinschaftszelle von den Mithäftlingen wegen seines guten Aussehens rasch den Spitznamen „Der Prinz“. Jaime teilt mit den Zellengenossen schnell nicht nur das Essen, sondern mit dem gefürchteten Anführer, von allen nur „El Potro“ (der Hengst) genannt, auch das Bett. Es ist fraglich, ob sich ausgerechnet im Gefängnis sexuelle Freiheit dermaßen ausleben lässt.

Doch auch die direkte und einfache Sprache machten den vermeintlichen Pulp-Schundroman, 1972 erstmals in Chile im Selbstverlag gedruckt, zu einem Verkaufserfolg. In der repressiven Gesellschaft Chiles war der Roman unvorstellbar. Er entwickelte sich jedoch kurzzeitig zum Underground-Hit, bis er dann in der Militärdiktatur bald in Vergessenheit geriet. Anlässlich der jüngst erschienen gleichnamigen Verfilmung von Sebastián Muñoz erschien die nun vorliegende Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von JJ Schlegel. Es ist die erste Veröffentlichung des Buches in einem Literaturverlag; aufgewertet mit einem erhellenden Nachwort und einem gründlichen Glossar.

*

Das Geschehen spielt in San Bernardo im Süden der chilenischen Hauptstadt zu Zeiten der Regierung des Präsidenten Salvador Allendes (1970-1973). Die Vorgeschichte wird in Rückblenden rekonstruiert. Der Ich-Erzähler Jaime springt zwischen der Zeit vor seinem Verbrechen und der aktuellen Gegenwart im Knast. Jaime beging am Ende einer durchfeierten Nacht aus Bosheit und gekränktem Narzissmus einen sinnlosen Mord. Er erstach den von ihm heimlich begehrten Freund El Gitano.

Im Gefängnis erlebt er in Momentaufnahmen die Brutalität des Alltags. Es hagelt Fußtritte, Faust- und Stromschläge. Jaime beobachtet die Geschehnisse stets im trockenen Tonfall distanziert und kalt. Nächtliche Leibesvisitationen der nackten Insassen sind seitens der Polizisten von Sadismus und Vergewaltigungen geprägt:


„Die Durchsuchung war so gründlich, dass sie uns schon beim kleinsten Verdacht dazu zwangen, die Beine zu spreizen, sich Gummihandschuhe überstreiften und uns einen Finger in den Hintern bohrten. Sie vermuteten, dass manche Zäpfchen bauten, um darin Drogen zu verstecken. Es fehlte nie ein halbschwuler, versauter Bulle, der die Gelegenheit ausnutzte, um seine Finger mit aller Gewalt reinzurammen. Wenn sich jemand beschwerte, machte das alles nur noch schlimmer.“ (S. 41)


Verletzlichkeit, versteckte Scham und männliche Erotik prägen den Gefängnisalltag. Im Geschrei, Gerenne, Hämmern und Radau der neuen Umgebung versucht Jaime durch Imponiergehabe beim Rundendrehen den Respekt der anderen Insassen zu gewinnen. Jaime erkennt, dass er sich auch nach Zärtlichkeit sehnt. Abfällig gewahrt er, dass andere Insassen „den Arsch hinhalten“, um aufgenommen zu werden. Sex unter der Gefangenen scheint allgegenwärtig. Neben die Machtkämpfe der Insassen untereinander tritt hinter Gittern stets auch das verlegene und triebgelenkte homoerotische Verlangen.

Es ist für Jaime jedoch auch ungewohnt, seinem neuen Freund El Potro von der eigenen Kindheit mit einer früh verstorbenen Mutter und einem desinteressierten Vater oder von ersten sexuellen Erfahrungen mit älteren Frauen zu erzählen:


„El Potros Zuneigung machte mich traurig. Eines Tages würde ich ihn verlieren. Es war möglich, dass er sich für einen Neuen begeisterte. Oder sie verlegten ihn in den Vollzug. Dann würde er unsere Gespräche vergessen. Die Situationen, in denen er mir Mut zugesprochen und mir zum Trost von den vielen Strafen und Ungerechtigkeiten erzählt hatte, die ihm widerfahren waren. Wenn ich seine Stichnarben sah, wurde mir bewusst, dass er männlicher, tapferer war als ich, dass ich ihn brauchte.“ (S. 60)


Insbesondere das Nachwort von Florian Borchmeyer zu den Hintergründen und der Einordnung des mittellosen Autors Mario Cruz bereichert das Lektüreerlebnis. Mit Verweisen auf Werke anderer chilenischer Autoren wie Pedro Lemebel beleuchtet Borchmeyer, dass wenige Jahre nach der Originalausgabe von El Principe im Selbstverlag der Putsch des faschistischen Militärs am 11. September 1973 auch unzählige Menschenrechtsverletzungen gegen LGBTQ-Personen zur Folge hatte. Da ist es ein schönes Bild, wenn Borchmeyer Cruz‘ Beweggründe für den Roman so bebildert:


„Eines Tages unternahm er im Auftrag einer Tageszeitung eine Recherche in einer Haftanstalt auf dem Land, aus der eine Knast-Reportage werden sollte. Ihn faszinierte dieser Kosmos, in dem, wie damals in Chile üblich, die Gefangenen auf engstem Raum zusammenlebten, auf Selbstbeschaffung und gemeinsames Kochen angewiesen, aber zugleich mit einer gewissen Freiheit, sich von Zelle zu Zelle zu bewegen, gemeinsam zu duschen, Kinovorstellungen zu besuchen. Überall in dieser durch und durch männlichen Welt herrschte eine intensive erotische Spannung zwischen den Gefangenen.“ (S. 110f.)


Ansgar Skoda - 17. November 2020
ID 12606
Verlagslink zum Roman Der Prinz von Mario Cruz


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