Alles vorbei?
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Bewertung:
Es ist eher ungewöhnlich, dass sich Rheinländer um einen Preußen ernsthafte Sorgen machen vor allem, wenn er ein Repräsentant der Besatzungsmacht ist. Doch der preußische Beamte Gustav Zabel befindet sich gleich in mehrerer Hinsicht in freiem Fall. War er im ersten Roman der Karnevalskrimi-Reihe Rosenmontag noch ein Sympathieträger, so lässt der Autor Lorenz Stassen ihn in Tödlicher Aschermittwoch offensichtlich vollends abstürzen. - Stassens Buch ist mehr als nur ein historischer Kriminalroman, sondern auch eine Abhandlung über ethische Fragen, wie weit man mit preußischer Präzision kommt, wenn sie am Geschehen und am Menschen vorbei geht, und wie weit man sich in Mauscheleien, namentlich den Kölschen Klüngel, verstricken lassen darf. Lorenz lotet die Grenzen zwischen Freundschaftsdiensten, Vorteilnahme und Korruption sehr fein aus.
Als Kommissar wurde Zabel den Kölnern vor die Nase gesetzt, um im Rheinland für Sitte und Ordnung zu sorgen, was weder heute noch in der historischen Zeit der Romanhandlung im Jahr 1825 erfolgversprechend ist. Bei den Rheinländern geht es alles andere als zackig zu – der Dom ist nach 577 Jahren Bauzeit noch immer nicht fertig – nur, wenn es um den Karneval geht, den sie vor zwei Jahren nach langjährigem Verbot durch diverse Machthaber wieder durchsetzen konnten, entwickeln die Kölner ungeahnte Kräfte.
Tödlicher Aschermittwoch beginnt, genau genommen, am Dienstagabend davor, als die Nubbelverbrennungen stattfinden. Traditionell muss eine Strohpuppe für die während des Karnevals begangenen Sünden brennen, damit die Kölner mit vergebener Schuld in die Fastenzeit bis Ostern eintreten können. Nun ja, die Wohlhabenden geben sich wenigstens den Anschein dazu, und für die arme Bevölkerung ist nahezu ganzjährig fasten angesagt. Neben den Nubbeln wurde aber auch ein getöteter Mensch verbrannt, und dieser neue Fall führt Zabel in eine Abwärtsspirale auf mehreren Ebenen.
Er weiß sofort, um wen es sich bei dem verkohlten Leichnam handelt, denn der Mann war hünenhaft groß, ihm fehlte eine Hand, und er hatte eine Schulterverletzung. Diese Verwundungen hatte ihm Zabel vor zwei Jahren in einem Kampf auf Leben und Tod eigenhändig zugefügt und den gewalttätigen und grausamen Anführer der Kölner Unterwelt, Arthur Schmoor, verhaften können. Zabel verschweigt sein Wissen jedoch, denn in Schmoors Begleitung müsste sich die Prostituierte Cécile Travail befinden, für die Zabel starke Gefühle gehegt hat, von denen er jetzt regelrecht übermannt wird. Er sucht den neuen Unterweltboss Victor Koll auf und bedroht ihn, falls dieser Frau ein Leid geschehen sollte. Koll beschützt und beherbergt Cécile daraufhin und hat Zabel damit doppelt in der Hand, weil dieser als Kriminalbeamter mit der Unterwelt kooperiert und wegen seiner Schwäche für eine „Hure“. Zabel verstrickt sich immer mehr in sein Lügengerüst und seine Leidenschaft, dabei kann er alles verlieren, seine Arbeit, seine Reputation und seine Ehe mit der wohlhabenden Eva, die ihn über alles liebt und auch begehrt. Es ist so gut wie unmöglich, dass Zabel aus diesem Dilemma unbeschadet herauskommt...
Stassen baut geschickt reale historische Personen und Ereignisse in die fiktive Handlung mit ein. Es hatte ein paar Jahre zuvor eine viel beachtete Rückgabe von geraubten Kunstgegenständen gegeben, die unter französischer Besatzung einkassiert worden waren. Der Rechtsgelehrte und Politiker Everhard von Groote (1789-1864) leitete damals die Rückführung ein. Am Rücktransport war er selbst nicht mehr beteiligt, wird aber unschuldig in den fiktiven Fall mit hineingezogen, denn einige der Kunstwerke sind nie an ihre Ursprungsorte zurückgekehrt. Dazu gehören die Mineralien von Cöln, die angeblich eine heilende Wirkung haben sollen, was zunächst keiner ernst nimmt. Doch je tiefer Zabel in seine Ermittlungen einsteigt, um so stärker erhärtet sich der Verdacht, dass sich eine Geheimgesellschaft um die Mineralien gebildet hat. Das ist völliger Unfug, für die Wissenschaftler auf jeden Fall, aber in dieser Zeit übten das Okkulte und der Aberglauben eine große Anziehung aus. Auch Viktor Koll „ermittelt“ auf seine Art, was zu einem weiteren Mord führt, denn er sieht in einer solchen unsichtbaren und kriminellen Vereinigung eine gefährliche Konkurrenz für seine Machtstellung in der Unterwelt.
Einer der ersten Bürger von Köln ist Heinrich von Wittgenstein (1797-1869), der zugleich auch der Vorsitzende des Festordnenden Komitees ist, zu dem auch Zabel auf Drängen seiner rheinländischen Frau gehört, was seinem Vorgesetzten, dem Polizeipräsidenten von Struensee (1774-1833), sehr missfällt. Durch das Komitee hat Zabel Verbindung zu den führenden Persönlichkeiten der Stadt. Sie machen ihm klar, wie wichtig der Karneval für die Identität der einst freien Bürger Kölns ist, die um so viel Souveränität wie möglich kämpfen. Auch die Rückführung des gestohlenen Gemäldes Kreuzigung Petri von Peter Paul Rubens war in dieser Hinsicht für die Kölner ein bedeutsames Ereignis. Stassen lässt auch den von der Zensur geplagten Zeitungsverleger Marcus DuMont (1784-1831) in genehmigter aufklärerischer Mission in Erscheinung treten. (Das Verlagshaus besteht bis heute und gibt u.a. den Kölner Stadtanzeiger heraus).
Stassen ist aktiver Karnevalist bei den Roten Funken und beschreibt eine Welt, die kurz vor einer Zeitenwende steht. Die Industrialisierung hat begonnen, und von Wittgenstein investierte z.B. in die Dampfschifffahrt, denn nichts und niemand würde die technische Entwicklung aufhalten können, im Guten wie im Schlechten, und sie würde die Menschheitsgeschichte und das Gesicht der Erde grundlegend verändern, denn die Eisenbahn wurde gerade erfunden und die Luft zumindest schon von Heißluftballons erobert.
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Seitdem feiern die Kölner mit dem Karneval einmal im Jahr sich selbst und das Leben; es ist die temporäre Zeit im Jahr, in der ihnen ursprünglich die Narrenfreiheit gewährt wurde, die Obrigkeit zu verschaukeln und damit zu kritisieren. Wie das ist, wenn es verboten wird und zurückerobert werden muss, haben die Karnevalisten während der Lockdowns erst vor kurzer Zeit erfahren müssen. Wenn vielen auch das historische Bewusstsein über die Ursprünge fehlen mag, so fühlen die meisten schon, dass es um mehr geht als Saufen und Fremdknutschen. Es wird mit viel Musik, Feiern und bunten Farben die dunkle Jahreszeit ausgetrieben.
Helga Fitzner - 6. Februar 2024 ID 14593
Ullstein-Link zum Krimi
Tödlicher Aschermittwoch
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