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Nachgetragene

Identität





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Elena Ferrante ist hierzulande bekannt geworden durch den monumentalen, 1700 Seiten umfassenden Neapelroman Meine geniale Freundin. Der Name Ferrante ist ein Pseudonym, die literarische Öffentlichkeit kennt die wahre Identität jener Autorin nicht, die einst in einem Interview darauf hinwies, wie überflüssig es doch sei, den Autor selbst zu kennen bzw. das Gesicht, das hinter dem Text steht. Lästige Liebe erschien 1992 in Italien, zwei Jahre später das erste Mal in Deutschland, damals nur ein mäßiger Erfolg. Nun hat sich der Verlag dazu entschlossen, Ferrantes Debütroman erneut, diesmal in der vorzüglichen Neuübersetzung von Karin Krieger, herauszugeben. Ein Entschluss, der sich gelohnt hat.

Wie ihr beeindruckendes Epos handelt auch das Erstlingswerk von der Identität, die sich allmählich selbst auflöst. Die Ich-Erzählerin Delia spürt dem Leben ihrer plötzlich verschwundenen Mutter nach. In deren Wohnung wittert sie förmlich die Spuren ihres vergangenen Lebens, und es ist Poesie im wahrsten Sinne des Wortes - eine eigenständige Erkenntnisform -, die diese wunderbare Erzählerin auf nur wenigen Seiten entfaltet: Eine ganz besondere Atmosphäre der Existenz, die einerseits die süditalienische Stadt, aber auch den individuellen Lebensraum der Mutter umfasst.

Vielleicht ist es das behutsame, fast sanfte Erzählen, die weiche und nie gefällige Sprache, dieses neugierige Wittern innerhalb einer fremden Welt oder dieser eigenartige und scheinbar so einfache Ton, den diese große Erzählerin vom ersten Satz an beherrscht. Unmöglich, eines dieser Merkmale herauszuheben. Ferrante ist mit allen Wassern der modernen Erzähltheorie gewaschen, zumal der postmodernen Philosophie und ihren zeitgenössischen Ablagerungen, und doch - darin aber besteht nicht die Besonderheit dieser Prosa - ist hier von der vordergründigen Kompliziertheit mancher zeitgenössischer Texte nichts zu spüren. Ferrantes Meisterschaft liegt, wie das zumeist der Fall ist, im Einfachen beziehungsweise darin, das Komplexe auf einfache Weise darzustellen. Was für ein Aufatmen im Anblick dieser Literatur, die es sich nicht nehmen lässt, eine komplizierte Welt in jenes Paradoxon zu bannen, das typisch ist für große Kunst, die eine komplizierte Welt nicht in facettenreichen Abbildungen darstellt, sondern mittels symbolischer Akte, die es dem Leser selbst überlassen, welthafte Abbildungen zu vollziehen. Eine gerade in der zeitgenössischen Literatur aus der Mode gekommene Verfahrensweise des poetischen Geistes.

Lästige Liebe ist ein Roman über das Verhältnis von Mutter und Tochter, wobei sich Delia, die Tochter, mit der Erinnerungs- und Trauerarbeit auch auf die Suche nach der eigenen Identität begibt. Denn Amalia, die Mutter, verschwand auf mysteriöse Weise, als sie im Begriff war, mit dem Zug von Neapel nach Rom zu fahren, um Delia zu besuchen. Nachdem Amalia tagelang als vermisst gemeldet war, spülte sie die unruhige See an der Küste zwischen Neapel und Rom plötzlich wieder ans Land. So wird alles in diesem Roman zum Symbol. Dabei fragt die Autorin nicht so sehr, was mit der Mutter tatsächlich geschehen ist. Delias Recherche gilt nur vordergründig der Ermittlung der wahren Begebenheiten; vielmehr stellt die Geschichte den Weg zurück in die eigene, verloren gegangene Identität des Tochterseins dar, das ihr schon vor vielen Jahren mit der wachsenden Distanz zu ihrer Mutter abhanden gekommen war. Nun aber, da sich Amalia nach ihrem Tod als eine fremde Person offenbart, gerät auch die Identität der Tochter selbst in Bewegung. Es ist die Geschichte einer fremden Biografie, die sich nach und nach als die eigene Autobiografie oder als Bedingung der Entstehung einer eigenen Autobiografie etabliert. Dabei schildert Ferrante meisterhaft, wie die nachgetragene Biografie der eigenen Mutter als einer Fremden, deren Doppelleben sich in ihren ungetragenen Dessous und dem seltsam Geruch ihrer Wohnung offenbart, die Ich-Erzählerin selbst in einen Zustand der Selbstentfremdung versetzt. Nichts anderes ist dies als ein Gleichnis des Erzählens selbst, das die zu erzählende Welt als die eigene Wirklichkeit wiederentdeckt.

Ein, man verzeihe das Wort, tiefer Roman. Tief in seiner Einfachheit. In seiner Poesie, verstanden als Symbolik, die die Augen öffnet. Ein veritables Kleinod. Eine gewisse Surrealität erobert am Ende des Buches die luftige, südländische Szenerie, während die Ich-Erzählerin selbst immer mehr unter den fremden Einfluss der Mutter gerät, die ihr, post mortem, gewissermaßen unter die Haut geht. Fast scheint es, als entstehe hier in der Erzählerin eine ganz neue Identität, und eben darin liegt der Charme dieser Geschichte, dass sie dieses zutiefst postmoderne Spiel mit den Identitäten auf eine so ungekünstelte, elegante und einfache Weise in Szene setzt. Chapeau, Signora Ferrante! Wir werden Zeugen, wie eine große Erzählerin das Licht der Welt erblickte.



Jo Balle - 24. Oktober 2018
ID 10986
Link zum Roman: https://www.suhrkamp.de/buecher/laestige_liebe-elena_ferrante_42828.html


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