Ausnahmsweise
gute Nachrichten
aus Ungarn
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Bewertung:
Umfragen unter „normalen“ Kinobesuchern, nicht unter Kritikern, nach den „besten“ oder „liebsten“ Film beweisen es: Das Wissen über die Filmgeschichte ist in geradezu erbärmlicher Weise vom US-amerikanischen Film dominiert. Das ist, als fielen einem zum Stichwort Musik nur deutsche Komponisten ein. Das verzerrt die wahren Verhältnisse zur Unkenntlichkeit.
Der auf Filmliteratur spezialisierte Schüren Verlag hat in seiner Reihe Klassiker des osteuropäischen Films jetzt einen Band über den ungarischen Film veröffentlicht, der an eine der wenigstens zeitweise führenden Filmnationen erinnert. 25 Filme aus den Jahren 1920-2015 werden besprochen und analysiert. Dabei darf jeder Regisseur, jede Regisseurin nur ein Mal vorkommen. Das ist zwar gerecht, aber sachlich fragwürdig. Man stelle sich vor, man wollte das Werk von Godard oder Kubrick am Beispiel eines jeweils einzigen Films würdigen. Wie sollte man die Auswahl treffen? Was weiß man über Histoire(s) du cinéma, wenn man nur Außer Atem kennt, was über Barry Lyndon, wenn man Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben studiert hat? Und kann man einen Überblick über den deutschen Film anbieten, in dem zwar Katzelmacher, nicht aber Die Ehe der Maria Braun genannt wird? So bleiben die Klassiker des ungarischen Films ein Flickenteppich mit unvermeidlichen Löchern. Miklós Jancsós Allegro Barbaro beispielsweise gehört ebenso unverzichtbar zu den „Klassikern“ wie seine Männer in der Todesschanze, und György Pálfis Final Cut: Meine Damen und Herren ist auf seine Art zumindest so originell wie Hukkle. Aber einen Kanon will die Auswahl ausdrücklich nicht suggerieren, wie einer der Herausgeber im Vorwort versichert. Damit ist man aus dem Schneider. Die Grenze zwischen dem Verzicht auf einen Kanon und Beliebigkeit bleibt freilich verschwommen.
Die chronologisch angeordneten „Klassiker“ beginnen mit dem Stummfilm Tiefland von 1920. In den einzelnen Kapiteln wird in unterschiedlicher Weise auf die Produktionsbedingungen eingegangen, auf inhaltliche und formale Auffälligkeiten, auf Bezüge zur Realgeschichte, auch auf die Rezeption der Filme. Die Beiträge zeichnen sich nicht nur durch einen hohen Kenntnisstand der Autorinnen und Autoren aus, sondern auch durch eine erfreulich klare Darstellung, was nicht zuletzt den Übersetzern einzelner Kapitel aus dem Ungarischen und dem Englischen zu verdanken ist. Der Jargon deutscher Dissertationen bleibt einem in diesem Band erspart. Auf die wiederholte Einleitungsformel, wonach ein Film als der „schönste“ oder „beste“ gelte, ist überflüssig. Sie dient offenbar dazu, dem Gegenstand der Untersuchung Bedeutung zu verleihen, und wenn schon darauf nicht verzichtet werden soll, wüsste man gerne, bei wem und mit welchen Argumenten gilt, was da behauptet wird. Im Grunde ist diese Behauptung durch die Aufnahme unter „Klassiker“ bereits dokumentiert.
Zwischen den Filmen Nachkömmlinge von 2004 und Sauls Sohn von 2015 klafft eine zeitliche Lücke von immerhin elf Jahren. Gab es in diesem Intervall keine Filme, die es verdienten, unter „Klassiker“, mit den Worten von Mitherausgeber Stephan Krause unter Filme aufgenommen zu werden, „die als filmästhetisch bedeutsam oder als gesellschaftlich, politisch, historisch wie kulturell repräsentativ angesehen werden können“? Wenn ja – woran liegt das? Da könnte György Pálfis Final Cut, der im Vorwort immerhin erwähnt wird, als Brücke dienen. Aber Pálfi ist ja schon mit einem früheren Film vertreten. Lieber ein Loch als die Durchbrechung der Systematik.
Thomas Rothschild – 18. Juni 2019 ID 11512
Link zu den
Klassikern des ungarischen Films
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