Keine Lobby.
Nirgends.
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Haben Sie schon einmal nachgezählt, wie hoch der Anteil von Frauen unter den Spitzenverdienern in Deutschland ist? Und haben Sie sich schon einmal informiert, wieviel öffentliche Toiletten es an Ihrem Wohnort gibt, zu denen Behinderte barrierefreien Zugang haben? Wie kommt es, dass Sie das eine interessiert und das andere so gar nicht? Ja, wie kommt das bloß? Dabei ist das Anliegen bescheiden. Wir fordern ja – warum eigentlich? – noch nicht einmal für Behinderte, was Monika Schulz-Strelow laut ZEIT ONLINE für Frauen fordert: „‘Nur klare gesetzliche Vorgaben mit Sanktionen führen zu mehr Gleichberechtigung, zumindest zahlenmäßig‘, sagte Fidar-Präsidentin Monika Schulz-Strelow. ‚Die Aufsichtsräte hatten über fünf Jahre Zeit, mit der Umsetzung individuell gesetzter Zielgrößen ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen für mehr gleichberechtigte Teilhabe in den Führungsebenen zu setzen.‘ Diese Chance sei vertan worden.“ Wir reden von sehr viel elementareren Ansprüchen als der Beteiligung in Vorständen und Aufsichtsräten.
Der Titel des Buchs, von dem hier die Rede ist, wandelt auf witzige Weise einen Titel von Christa Wolf ab: Kein Örtchen. Nirgends. Das Thema freilich, dem sich die Autoren Claudia & Bernd Hontschik, sie Pädagogin, er Chirurg, widmen, ist nichts weniger als erheiternd. Es geht um jene stillen Örtchen, die im Fall des Falles unverzichtbare Erleichterung gewähren, bei deren Einrichtung man aber jene vergessen hat, für die manche architektonische Besonderheit ein unüberwindbares Hindernis beim Zugang bilden. Man stelle sich vor, in einer deutschen Stadt gäbe es nur öffentliche Toiletten für Männer und nicht für Frauen. Wieso findet der Aufstand, den das auslöste, nicht statt bei Toiletten, die für Behinderte unzugänglich bleiben?
Die Autoren sprechen aus Erfahrung. Claudia Hontschik ist an den Rollstuhl gefesselt, das Leben ihres Mannes ist weitgehend davon bestimmt, dass sie auf seine Hilfe angewiesen ist. Muss man betroffen sein, um dieses Thema abzuhandeln? Es scheint so. Auch der Schriftsteller Erwin Riess, dessen Romanheld Herr Groll ebenfalls Rollstuhlfahrer ist, teilt dessen Schicksal.
Minutiös beschreiben Claudia und Bernd Hontschik, welche Hürden überwunden werden müssen, wenn man das Schauspielhaus in Frankfurt am Main, wo sie leben und arbeiten, betreten will. Und eben die Toiletten. Wo sie auch hinkommt, bleibt Claudia der Zugang zu dem Örtchen aus diesem oder jenem Grund buchstäblich versperrt. Mal lässt sich die Tür nicht öffnen, mal ist ein überdimensioniertes Waschbecken im Weg, mal dient die Rollstuhltoilette als Abstellraum. Ein Kapitel widmet sich dem Sonderfall der Autobahnraststätten. Die Bilanz ist ernüchternd.
Aber die Autoren haben auch Erfreuliches zu berichten. Als hätten sie Angst, als Miesmacher oder Nörgler abgefertigt zu werden, nennen sie ein paar seltene positive Beispiele. Ob‘s was nützt? Ob die Zuständigen diesen Beispielen folgen werden? Die Missstände sind ja nicht das Ergebnis von Unkenntnis, sondern von mangelndem Willen, von Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit. Es bedarf schon einer ordentlichen Portion Optimismus, wenn man annimmt, dass die Politik und die Wirtschaft in sich gehen werden, zumal wenn es mit Kosten verbunden ist. Auch die Frauen bekommen Quotengesetze nicht, weil man demonstriert hat, wie dekorativ Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen unter Beteiligung von Frauen sind, sondern weil sie eine schlagkräftige Lobby haben. Wenn die geschätzt zehn Prozent Menschen mit schweren Behinderungen damit drohten (und es wahr machten), keine Partei zu wählen, die ihren Einsatz für Behinderte nicht nachweisen kann, wären die öffentlichen Toiletten sehr schnell barrierefrei.
Das Buch hat eine Pointe. Um Fotos vom Palmengarten und vom Holzhausenschlösschen zu machen, wollten die Hontschiks dorthin zurückkehren. Da kam der Corona-Lockdown dazwischen. Über Beziehungen konnten sie dennoch an die beiden Orte gelangen. Die Fotos konnten gemacht werden. Weil so gut wie keine Menschen da waren. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Von Georg Kreisler gibt es ein Lied mit dem Vers: „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“. Es gilt wohl auch: „Wie schön wäre Frankfurt ohne Frankfurter“. Aber das geht sich metrisch nicht aus.
Ein Sonderlob gebührt der vorbildlichen Buchgestaltung, der Typographie, dem Layout und den witzigen Zeichnungen von Christine Fiebig. Auch ein ernstes Thema lässt sich in einer Weise aufbereiten, das Auge und Herz erfreut.
Thomas Rothschild - 29. November 2020 ID 12630
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Kein Örtchen. Nirgends.
Post an Dr. Thomas Rothschild
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