„Warum
weinst
du?“
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Bewertung:
In Julja Linhofs Debütroman Krummes Holz provozieren Blicke Unbehagen. Sie öffnen Räume, auch für Veränderungen. Nähe ist das Thema, Nähe zu anderen. Der Ich-Erzähler, der 19-jährige Jirka, ist verschlossen. Er verbirgt oft mehr als er zeigt. Er kehrt zurück auf den familiären Hof zu seiner Schwester Malene und seiner Großmutter. Sein Vater ist scheinbar verschollen. Es entspinnen sich diskrete, selten offenherziger werdende Dialoge. Nach und nach erfährt der Leser, dass familiäre Gewalt Jirkas Leben hier bisher bestimmte. Die Geschwister mit gegensätzlichen Fähigkeiten stehen noch heute oft in Konkurrenz zueinander. Über die Gewalt und Geheimnisse innerhalb der Familie wird zunächst geschwiegen. Behutsam deutet der Roman schmerzhafte Machthierarchien, prekäre soziale Verhältnisse und fehlendes Vertrauen an, die in die Familiendynamik eingeschrieben scheinen.
Krummes Holz, das mit dem ZDF-aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wird nicht durchgehend chronologisch erzählt. Zeitebenen erscheinen ineinander verschachtelt, schwelende Konflikte werden angedeutet. Der naive, trotzige, Geborgenheit suchende, gelegentlich verzweifelte Jirka bleibt manchmal wenig greifbar. Wir erfahren nicht, wohin er sich in seinem Leben entwickeln möchte. Der Leser wird jedoch gewahr, dass in Jirka insgeheime Sehnsüchte schwelen, die er verwirklichen möchte. Sie haben mit Leander zu tun, dem älteren Sohn des früheren Verwalters. Der anmutige Leander bewegt sich demütig zwischen den Geschwistern, bescheiden, unsentimental und nüchtern auf dem heruntergewirtschafteten Gehöft hart arbeitend:
"Ich steche abermals meinen Freund, den Hahnenfuß, aus dem knochentrockenen Boden, als Leander, nicht unweit von mir in die Rabatten tritt. Zum ersten Mal frage ich mich, ob er meine Distanz falsch interpretiert. Mein wortkarges Verhalten bis hin zur totalen Schweigsamkeit. Vielleicht denkt er, es seien Trotz oder Stolz, die mich davon abhalten, ihm entgegenzukommen. Das ist es nicht. Er selbst ist es. Und die zwei, drei Risse in der Realität, die mich für weniger als eine Sekunde etwas sehen lassen, das Übelkeit in mir hervorruft. Mehr Angst als der Keller. Da sitzt etwas im Schatten, dem ich nicht mehr als diese Viertelsekunde zugestehe. Und Leanders Anwesenheit dehnt die Sekunde. Vervielfältigt sie. Füllt sie bis an den Rand mit Scham an. Glasklar perlt sie von all den anderen Gefühlen ab. Scham macht Leanders Nähe so unerträglich.“ (S. 134f.)
Annäherungen zwischen Jirka und Leander scheitern wiederholt kläglich. Bald begegnen sich jedoch die Geschwister Jirka und Malene auf Augenhöhe. Es eröffnen sich Spielräume und eine neue Perspektive. Jirka, Malene und Leander eint alle eine Suche nach der eigenen Identität und der Wunsch nach Zusammenhalt und Gemeinschaft. Am Ende scheint eine Harmonie flüchtig greifbar.
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Die karge Sprache der 1991 geborenen Julja Linhof liest sich leicht und entfaltet spannungsvoll einen packenden Rhythmus. Die Dialoge zwischen den Charakteren scheinen im Alltagston erfrischend frech und lässig. Angedeutete Brutalität wird durch Pathos wirkungsvoll aufgelockert. Insbesondere die nachdenklicheren Momente entfalten in diesem warmherzigen Porträt einer möglichen Wahlfamilie eine Strahlkraft. Ein greifbarer nachhaltiger Zusammenhalt zwischen Jirka, Malene und Leander erscheint schlussendlich nicht utopisch, sondern gelebte Realität.
Ansgar Skoda - 26. Juni 2025 ID 15329
Klett-Cotta-Link zum Roman
Krummes Holz
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