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Sachbuch

Aktueller Beitrag

zur DDR-Forschung

mit dem Potenzial,

zum Standardwerk

zu werden





Bewertung:    



Der Bildungshistoriker, Linguist und Amerikanist Alexander-Martin Sardina aus Hamburg hat 13 Jahre in aus- und inländischen Archiven geforscht und 34 Zeitzeugen befragt, um der Frage nachzugehen, was der Fremdsprachenunterricht in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik außer Russisch zu bieten hatte und ob der intendierte Unterricht mit der Realität korrespondierte oder ob Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften.

Im Mai 2019 erschienen nun seine Befunde auf 689 Seiten im Wolff Verlag in Berlin unter der Leitung von »Deutschlands jüngstem Verleger«, Robert Eberhardt (geboren 1987 in Thüringen). Dabei stechen mehrere Aspekte unmittelbar ins Auge: Ein künstlerisch ansprechendes und durchdachtes Cover, das hohe Gewicht von 1,4 kg der Publikation, die bestmögliche Verarbeitung mit gestrichenem Papier, Farbdruck und Fadenheftung sowie der sehr attraktive Preis, der bei unglaublich günstigen 29 Euro liegt – üblicherweise müsste ein Buch in dieser Ausstattung um die 100 Euro kosten. Der Autor merkt dazu selbst an, dass er beim Abfassen des Manuskripts »immer die interessierte Öffentlichkeit vor Augen« hatte, die auch, ohne vom Fach zu sein, alles lesen und verstehen können soll. Das ist ihm geglückt, und die Publikation erschwinglich zu halten, ist gewiss ein Vorteil.

Inhaltlich trifft man auf manche Ungewöhnlichkeiten: Zum einen hat Sardina das Vorwort zu einem 14-seitigen Vademecum ausgebaut, das dem Leser hilft, sich in dem Werk zurecht zu finden. Doch geht es sofort zur Sache, denn allein in diesem Abschnitt sind die ersten 30 Fußnoten.

Dem Hauptteil ist ein überaus nützliches und unterhaltsames Glossar vorangestellt, mit dessen Hilfe der Leser zunächst für allgemeine Unterschiede zwischen dem Ostdeutschen und dem Standarddeutschen sensibilisiert wird. Linguistisch präzise werden beispielsweise Russismen im DDR-Deutsch, die Aussprache der Handelsorganisation »Konsum« und das Phänomen der Häufung fremdsprachiger Vornamen in der DDR behandelt. Im Anschluss daran werden die fachsprachlichen Unterschiede auf dem Gebiet der Pädagogik tabellarisch besprochen.

Die dann folgende Einführung offenbart den wissenschaftlichen Charakter des Buches, indem Hypothesen und Ziele formuliert und die Grundlagen der Volksbildung dargelegt werden. Der Autor weist explizit darauf hin, dass im Zentrum allen Handelns immer die Führung der SED stand und illustriert dies anhand einiger Beispiele. Der Forschungsbericht offenbart, dass vor der Wende interessanterweise selbst politisch linke Organisationen wie die GEW als Lehrergewerkschaft die Bildungskonzeptionen im sozialistischen Deutschland nicht thematisierte. Zugleich weist Sardina darauf hin, dass sich bisher keiner der führenden SED-Kader mit der Kritik an der DDR auseinandergesetzt hat. Die wenigen Veröffentlichungen ab den 1990er Jahren enthalten nur propagandistische Phraseologie, die ein fiktionales Bild einer DDR zeichnet, die es so nie gegeben hat. Da die vormals führenden Kader langsam versterben, bleibt es vermutlich bei dem frommen Wunsch nach einem faktenbasierten Diskurs.

Die 40 Jahre des Untersuchungszeitraums gliedert Sardina in vier Abschnitte und weist selbst darauf hin, dass man die Dekaden auch anders hätte unterteilen können. Der Inhalt des Hauptteils des Werkes ist zu detailreich, um ihn komplett in dieser Rezension darzustellen, darum sei die Beschränkung auf die Nennung dreier bemerkenswerter Befunde erlaubt.

Erstens belegt Sardina, dass die sowjetischen Offiziere zur SBZ-Zeit handverlesene, gebildete Experten waren, die – im Gegensatz zu den westlichen Alliierten – fast alle Deutsch konnten. Zudem wurden die Lehrpläne aus der UdSSR übernommen für die SBZ, die flächendeckend eine Beschulung im Fach »Englisch« vorsahen, ergänzend zum neuen obligatorischen Fach »Russisch«.

Den sprachpolitisch ungewöhnlichsten Befund stellen mit Sicherheit die Bemühungen aus dem In- und Ausland um die Förderung der Plansprache »Esperanto« dar. Der Autor kann anhand der Akten nachweisen, dass es praktisch alle zehn Jahre geballte Aktionen gab, um die Anerkennung dieser Sprache in der DDR zu fördern.

Der dritte Aspekt sind die drei »Vertiefungskapitel« in diesem Buch, die im Prinzip eigenständige Aufsätze sind, die unabhängig vom Rest des Werkes gelesen werden können. In ihnen werden das Projekt English for You, die einzige Spezialschule für Fremdsprachen und die – bislang in keiner anderen Veröffentlichung genannten – Besuche amerikanischer Jugendlicher an einer »Erweiterten Oberschule« beleuchtet.

Sardina beweist mit den »Vertiefungskapiteln«, dass sich akribisches wissenschaftliches Arbeiten auszahlt, denn jede Seite ist ein Feuerwerk an Details und Fakten. Knapp 150 Seiten Zeitzeugenbefragungen, die Sardina mit der von ihm entwickelten Methode der Qualitativen Sozialforschung des »Redigierten und ergänzten Zeitzeugeninterviews« (REZI), die sich beispielsweise für Bachelor- und Masterarbeiten zur Anwendung und Nachahmung empfiehlt, durchgeführt hat, ergänzen die inhaltlichen Befunde aus den Akten.

Der Anhang der Arbeit fällt äußerst umfangreich aus, was der Autor mit den strengen Vorgaben des Bundesarchivgesetzes begründet, die eine Zweitverwertung außerhalb des aktuellen Projekts nicht zulassen.

Darin finden sich »Extrakapitel«, die über das Kernthema des Buches hinausgehen, beispielsweise zur staatlichen Auszeichnung »Verdienter Lehrer des Volkes«, zu der es bisher keine umfängliche Darstellung in der Literatur gibt. Sardina schlägt auch einen Bogen in die Gegenwart, indem er der Frage nachgeht, ob der langjährige »PISA-Dauersieger« Finnland seine Erfolge tatsächlich der Übernahme gewisser Elemente aus der Volksbildung der DDR verdankt, wie manche Medien spekulieren.

Ein gegliedertes 45-seitiges Literaturverzeichnis dient nicht allein dem Quellennachweis, sondern eignet sich für nachfolgende Arbeiten anderer DDR-Forscher als Einstieg in das Themenfeld. Diverse Listen und Statistiken zur Volksbildung machen »Hello, girls and boys!« endgültig zu einem zeitlosen Nachschlagewerk.

Die einzige negative Kritik ist vielleicht darin zu sehen, dass das Buch über kein Personen- und Sachregister verfügt. Vermutlich war dies nicht automatisiert zu erstellen und hätte vom Umfang her weitere 50 Seiten in Anspruch genommen, die die Publikation noch umfangreicher und schwerer gemacht hätten. Der Autor kompensisert dieses Manko mit häufigen Querverweisen innerhalb des Werks.

*

Fazit: Alexander-Martin Sardina hat ein Sachbuch vorgelegt, das in multipler Weise bemerkenswert ist. Der Autor präsentiert überwiegend neue Erkenntnisse, schließt eine Vielzahl an Forschungslücken und stellt der DDR-Forschung einen Fächer an neuen Primärquellen zur Verfügung. Auf Sekundärliteratur wird nur untergeordnet verwiesen. Stolze 938 Fußnoten mit detaillierten ergänzenden Ausführungen belegen die Sachkenntnis des Autors, so zum Beispiel auch seine Erläuterungen zur israelfeindlichen Politik der DDR in der Fußnote 218. Bei alledem zeichnet sich Sardinas Buch durch einen angenehm zu lesenden, lockeren, mitunter sogar humorvollen Schreibstil aus. Aus diesen Gründen hat »Hello, girls and boys!« zweifelsfrei das Potenzial, zu einem Standardwerk der DDR-Forschung zu werden.


Christoph Gutknecht - 10. Juni 2019
ID 11487
Link zum Sachbuch: https://www.wolffverlag.de/product-page/hello-girls-and-boys


Post an Prof. Dr. Christoph Gutknecht

https://www.slm.uni-hamburg.de/iaa/personen/ehemalige-emeriti/gutknecht-christoph.html

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