Die Nähe
zum Tod
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Bewertung:
Hospizpflege ist eine besondere Form der Krankenbehandlung. Die unheilbar kranken Patienten werden bis zum Tod begleitet, und die verabreichten Medikamente, meist starke Schmerzmittel wie Morphium, sollen die Leiden soweit möglich verhindern und einen schmerzfreien Tod ermöglichen. Heilungschancen bestehen zu diesem Zeitpunkt für den Patienten nicht mehr. Die Betreuung findet oft ambulant statt, sodass die Nähe zwischen Krankenschwester, Patient und Angehörigen größer wird als im Krankenhaus.
Für eine Hospizschwester bedeutet dies aber auch, dass keiner ihrer Patienten überlebt und dass sie regelmäßig mit dem Tod konfrontiert wird. Dies ist auf der einen Seite deprimierend, doch auf der anderen Seite ermöglicht es Einblicke in todesnahe Situationen, erlaubt es spirituelle Momente, die für die Autorin ihr Leben verändert haben, und an diesen Momenten lässt sie uns in diesem Buch Zwischen den Welten teilhaben.
Zwölf Geschichten, zwölf Patienten, zwölf sehr unterschiedliche Schicksale. Gleich bei ihrer ersten Patientin Glenda, die an Hautkrebs leidet, wird Hadley Vlahos mit einem ungewöhnlichen Phänomen konfrontiert. Glenda stellt ihr ihre Schwester vor, die allerdings längst verstorben ist, für sie aber real im Zimmer steht. Verwirrt scheint Glenda keineswegs, eher die Autorin, die dieses Phänomen zum ersten Mal erlebt. Zunächst möchte Hadley ein Antipsychotikum verabreichen, wie dies in solchen Fällen durchaus üblich ist, doch genau dies passt nicht zur Palliativpflege, erklärt ihr ihre Ausbilderin. Für Glenda ist der Besuch ihrer Schwester real und macht die Sterbende glücklich. Dieses Phänomen, den Besuch von Verstorbenen, erlebt Hadley bei ihren Patienten später immer wieder, genau wie eine Art spiritueller Vorausschau.
So sieht die an Alzheimer erkrankte Edith ihr brennendes Schlafzimmer und ist erst zu beruhigen, nachdem ihr Bett in ein anderes Zimmer geschoben wird. Tatsächlich bricht Wochen nach ihrem Tod genau in diesem Zimmer wirklich ein gefährlicher Brand aus.
Der obdachlose Al, mit dem Hadley eine sehr intensive Beziehung während der Betreuung aufbaut, warnt sie vor einem Unfall, der wenige Stunden nach seinem Tod auf dem Nachhauseweg von Hadley stattfindet. Nur durch eine leichte Verspätung entgeht sie dem Desaster. Natürlich können dies Zufälle sein, für Hadley gewinnen sie in ihrem Leben zunehmend an Bedeutung. Als sie ihr Patient Frank, der ein überzeugter Atheist ist, nach dem Übergang zwischen Leben und Tod fragt und wissen will, was sich für sie in der Zeit ihrer Arbeit geändert hat, fasst sie ihre Überlegungen zusammen:
"Als Hospizschwester aber hatte ich so viele Dinge erlebt, die sich nicht durch Zufall oder medizinische Erkenntnisse erklären ließen. Zu jeder Geschichte, die ich selbst erlebt hatte – über Patienten, die plötzlich ihre Lieben sehen über das Feuer, das Edith vorausgeahnt hatte, und den Unfall, den Al intuitiv gespürt hatte -, gab es zehn weitere, ähnliche Geschichten von jeder meiner Kolleginnen. Ich konnte einfach nicht länger ignorieren, das da nach dem Tod etwas war. In meinen Augen wäre das irrational gewesen. (…) Ich konnte akzeptieren, dass in dieser Welt schlimme Dinge geschahen, aber eben auch die spirituellen Momente, die ich in meiner Arbeit und meinem Leben erlebte. Und ich wusste, dass beides real war". (S. 259)
Der Tod und die Beschäftigung damit sind für viele Menschen bis heute ein Tabu. Die Religionen haben ihre Interpretationen geliefert und sagen, was mit uns geschehen wird, doch Glauben heißt eben Nichtwissen, und es ist noch niemand zurückgekehrt. Das Buch liefert eine behutsame Annäherung an das Thema, gibt Raum für eigene Gedanken und liefert Menschen, die selbst oder deren Angehörige sich in einer todesnahen Situation befinden, Trost.
Ganz nebenbei erfahren wir einiges über das US-amerikanische Gesundheitssystem und die Arbeitssituation der Hospizschwestern. So ist die lange Zeit alleinerziehende Mutter Hadley ständig von Arbeitslosigkeit bedroht. Ihrer Kollegin, die ebenfalls allein ihr Kind aufzieht, wird eine Gehaltserhöhung zum Verhängnis. Sie „fliegt“ aus der kostenlosen Gesundheitsfürsorge, da sie nun zu viel für die Voraussetzungen dieser Versicherung verdient, kann aber gleichzeitig die Kosten für eine private Krankenkasse aus dem aufgestockten Gehalt nicht bezahlen. Tatsächlich muss sie sich einen anderen Arbeitgeber suchen, was in diesem Zusammenhang absurd klingt.
Die Lektüre des Buches ist weder deprimierend noch traurig. Sterben ist hier nicht angstbesetzt, sondern kann Hoffnung geben. Es ist ein ungewöhnliches Buch, das ungewöhnliche Gedanken erlaubt und eine positive Auseinandersetzung mit Sterben und Tod darstellt. Für mich ist es absolut lesenswert und ein wichtiger Baustein für das gesellschaftliche wie familiäre Zusammenleben.
Ellen Norten - 5. September 2024 ID 14903
Kösel-Link zum Sachbuch
Zwischen den Welten
Post an Dr. Ellen Norten
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