Hinter
dem Kanal
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Bewertung:
Wer in Gelsenkirchen-Buer aufgewachsen ist, den interessieren die Leute jenseits des Rhein-Rhein-Kanals nur mäßig, um nicht zu sagen gar nicht- obwohl dort das eigentliche Gelsenkirchen erst beginnt. Der Kanal trennt den ursprünglichen Ort vom Stadtteil Buer, der ehemals selbstständig war.
Hinter dem Kanal, hüben wie drüben, ist die Welt anders, das hat der Autor gut erkannt und erntet bei mir seinen ersten dicken Pluspunkt. Mit mir hat er sich eine strenge Rezensentin eingefangen, da ich mit Unterbrechung fünfundzwanzig Jahre in meinem Geburtsort gelebt und dort immer noch enge Freunde habe. Ich wage zu behaupten, dass ich meine Heimat kenne. Gregor Sander bedient im Buch nicht, wie sonst üblich, sattsam bekannte Ruhrgebietsklischees. Er sieht Gelsenkirchen, wie es ist und erkennt, dass die Ruhrgebietsstädte zwar geografisch zusammen gehören, doch jeder Ort seine eigene Historie und Bewohnerschaft sein Eigen nennt.
Also lasse ich mir die ärmste Stadt Westdeutschland von einem Ostdeutschen vom Prenzlauer Berg erklären, schmunzele und nicke bei der Lektüre und entwickele bei den Sprüchen von Jürgen von Manger sentimentale Gefühle. Wieder ein Pluspunkt, der Autor hat es hinbekommen, den alten Komödianten neu zu beleben, lässt ihn die großräumigen Schotterflächen der Industriebrachen kommentieren:
"Dat gehört beim Glücksgefühl des Menschseins wohl mit bei, dat die Natur, die einen umwächst, nicht die Überhand erhält, wenn sie verstehen, wat ich meine." (S. 93)
Adolf Tegtmeier erklärt die Welt. Herrlich, da liebe ich meine Heimat von neuem, doch ich weiß auch, warum ich weggezogen bin, und vor dieser Tristesse verschließt Sander seine Augen nicht. Er packt sie in literarische Figuren: Zonen-Gaby im Glück, die auf dem Titel der Titanic ihre erste Banane in Form einer Gurke zu sich nahm. Die fiktive Gaby lebt heute mit ihrem türkischen Mann, der einen Kiosk betreibt, in Gelsenkirchen. Beide erklären dem Autor die Heimat, und der ruft nun zur Verstärkung Schlüppi, seinen Freund vom Prenzlauer Berg, zur Unterstützung.
Die beiden erkunden den Bahnhof, der keiner mehr ist, wohnen in Flöz Dickebank, der heute nur noch als Straße daherkommt, besuchen den Schalker Markt, der mittlerweile ein meist leerer Parkplatz ist, und bestaunen die Leninstatur, die vor kurzem von der MLPD vor einem alten Sparkassengebäude zum Ärger der Stadtväter errichtet wurde. Wir treffen alte Kumpel, Türken, die die Türkei kaum noch kennen, und zugereiste Osteuropäer. Sie alle schaffen die Atmosphäre, die für Gelsenkirchen so typisch ist.
Und dann ist da noch Schalke 04, das einzige Aushängeschild der Stadt, von dem es aber auch nur den Abstiegskampf zu schildern gibt. Passend dazu immerhin der Schalkefriedhof mit seinen 1904 besetzten und leeren Gräbern und einer trauernden Witwe, pardon Geliebten.
"Na, erst mussten wir natürlich immer dat Scheißspiel gucken, und später dann hab ich uns wat gekocht. Flattermann mit Pommes mochte er oder Löwenköttel mit schön Buttermöhrchen bei. Der war da nicht quisselig. Und danach kam dann der gemütliche Teil. Dat war dann aber gemütlicher, wenn Schalke gewonnen hatte, sonst hatte der Dicke auch schon mal ein im Timpen vor lauter Frust und is aufm Sofa eingepennt." (S. 181)
Der Autor hat nichts übersehen. Er hat ein launiges Buch mit viel Witz geschrieben und eine gehörige Portion Heimatgefühl für Ost und West hineingepackt. Ein ehrliches Buch über eine Stadt, die ein Drittel ihrer Bewohner in den letzten 50 Jahren verloren hat. Es macht Spaß dem unverstellten Blickwinkel von Sander zu folgen, der manchen gekonnten Vergleich zieht, dies aber weder hämisch noch jammernd von sich gibt. Höchstzahl der möglichen Punkte erreicht!
Ellen Norten - 10. März 2022 ID 13507
Penguin-Link zum Reiseführer Lenin auf Schalke
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