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Roman

Gerupfter

Vogel Jugend





Bewertung:    



„Jodie spürte, wie der Boden unter ihr nachgab. Ihre Fassade stürzte ein wie bei einem Abrisshaus, und der geheime Inhalt ihres Lebens quoll heraus. Sie wurde demontiert, und jedes unpassende Bettlaken in ihrem Kopf wurde vor aller Augen ausgebreitet. Sie wusste, warum ihr Lehrer abgehauen war. Sie wusste, was sie getan hatte, dass Mr Gillespie verschwand.

Im Bus wollte Mungo nicht neben ihr sitzen. Er setzte sich auf die andere Seite und drückte sich ans Fenster, den Blick auf die schwarzen Felder gerichtet. Jodie konnte sich nicht erinnern, wann er je so enttäuscht von ihr gewesen war.“
(Douglas Stuart, Young Mungo, S. 204)


*

Dieser Coming-of-Age-Roman ist harter Tobak! In atmosphärischen Bildern fehlender Zukunftsperspektiven zeichnet Douglas Stuart in Young Mungo junge Heranwachsende aus prekären Verhältnissen in Glasgow East End der 90er. Young Mungo erzählt von der Bande dreier Geschwister und ihrer alkoholkranken, alleinerziehenden Mutter. Diese Mittdreißigerin, von ihren Kindern Mo-Maw genannt, geht zunehmend eigene Wege und überlässt ihre Kinder sich selbst. Langsam zerfällt so der Zusammenhalt der Familie.

Es gilt für die, schon früh aus dem Nest gefallenen Geschwister das Prinzip friss oder stirb, wenn sie sich etwa zunehmend durch eigene Ersparnisse oder wohlgesonnene Nachbarn versorgen müssen. Insbesondere der jüngste Sohn, der fünfzehnjährige Titelheld Mungo, leidet unter dem Alleingelassen-werden. Sein Heranwachsen steht im Zentrum des Geschehens. Sein Leben ist geprägt durch emotionale Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch, einhergehend mit sexuellem Erwachen. Seine toughe, ältere Schwester Jodie sieht, wie er leidet und versucht für ihn die Mutterrolle mit zu übernehmen.

Im Romanverlauf erfahren wir jedoch auch, dass sie in Ermangelung eines elterlichen Beistandes, nicht nur kluge Entscheidungen trifft. Sie sucht die Nähe zum Lehrer Gillespie, der sie schulisch früh fördert, bald jedoch auch gewissenlos ausbeutet. Die Konsequenzen legt der Roman erst im späteren Verlauf offen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Es wird deutlich, wie Charaktere an herben Enttäuschungen auch zu wachsen versuchen.

Douglas Stuarts Wechsel zwischen Handlungssträngen und Perspektiven erzeugt Spannung. Er beschreibt einfühlsam die oft bedrohliche Atmosphäre im Roman. Detailgenaue, stimmungsvolle Bilder wirken beinahe filmisch. Stuart fängt Machtdynamiken, die Frustration, Wut und Gewaltbereitschaft der zu kurz gekommenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im kriminalitätsnahen Milieu gekonnt ein. Fragen der Zugehörigkeit, Erwartungsdruck, zaghafte homosexuelle Annäherungen und Homophobie zwischen den Gleichaltrigen werden thematisiert. Schonungslos eröffnet die Perspektive Mungos das Chaos, in das ein Jugendlicher fallen kann, wenn er das Vertrauen zu Bezugspersonen verliert und wahrnimmt, wie er sexuell anders als seine Altersgenossen empfindet, gleichzeitig jedoch auch sexuell ausgenutzt wird.

Der schottisch-amerikanische Schriftsteller Stuart kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie in Glasgow und wuchs bei einer alleinerziehenden Mutter auf, die verstarb, als er sechzehn war. Er erhielt 2020 für sein Romandebüt Shuggie Bain, das eine ähnliche Geschichte erzählt, den renommierten britischen Booker-Prize. Der Modedesigner lebt heute mit einem Mann verheiratet in New York. Die schiere Anhäufung grausamer Schicksalsschläge und Figuren wirkt ein bisschen zu konstruiert, überladen und realitätsfern. Da sind es insbesondere feine Zwischentöne, genaue Figurenzeichnungen und vielstimmige Bilder, die fesseln, etwa wenn Mungo von einem gewalttätigen Peiniger ein Versprechen abgerungen wird:


„Gallowgates flinker Verstand war zu schnell für ihn. Er war es leid, wie er ständig an seiner Leine riss, als wäre Mungo ein lahmer Hund, den er hinter sich herzerrte. Er war die feuchte Kälte leid, die vom See aufstieg, er war den Anblick der erbärmlichen, abgetretenen Schuhe leid, die aus dem Zelt ragten. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag sah Mungo Gallowgate in die Augen, und dort zwischen seinen Brauen, sah er eine kleine Falte, das erste Aufflackern von Zweifel, oder vielleicht Angst. Mungo war froh darüber. Er hielt inne und genoss die halbe Sekunde. 'Ich erzähl es niemand. Versprochen.'“(S. 380f.)


Ansgar Skoda - 22. September 2023
ID 14396
Hanser-Link zum Roman Young Mungo von Douglas Stuart


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