Die Wertschätzung
unserer Nahrung
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„Das Kochen hält den Verfall der Natur auf und verwandelt sie – ganz so wie die Kultur mit Mythen und Riten... Wir sind, was wir essen, aber wir sind auch, wie wir kochen“, meint die Filmschaffende und Schriftstellerin Doris Dörrie auf Seite 12 in ihrem Büchlein Die Welt auf dem Teller – Inspirationen aus der Küche. Darin stellt sie in 58 kurzen Geschichten ihre Gedanken, Erfahrungen und vor allem ihre Wertschätzung von Nahrungsmitteln vor. Sie plädiert dafür, die „Metamorphose durch das Kochen“ (S. 31) zu zelebrieren, weil ansonsten ein Kulturverlust drohe.
Dörrie war schon als Kind eine genussvolle Esserin, die für das Ergattern einer frischen Brotkruste schon mal ihre Schwestern übervorteilte. In Die Verwandlung bewundert sie die Vielfältigkeit der Kartoffel als Brei, Rösti, Gnocchi, Suppe und einigem mehr. Sie hat auch der Lieblingskartoffel der Deutschen, der Linda, ein Kapitel gewidmet, die 2004 vom Markt genommen wurde und nach Protesten wieder angebaut werden kann. „Aber es bleibt die Frage: Wem gehört unser Gemüse?“ (S. 49). Auch der Kohl wird von Dörrie gewürdigt, nicht unbedingt wegen seines Geruchs, aber wegen seiner Bedeutung als Wintergemüse und des Verwandlungsprozesses, den er im Falle der Gärung erfährt. Die Fermentierung hat in vielen Ländern Tradition und leistet einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit und Gesundheit.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich werde gerade ganz irre bei meinen Versuchen, den Planeten mit meiner Existenz nicht mehr als unbedingt nötig zu belasten“ (S. 31), schreibt Dörrie und spricht damit vielen Menschen aus der Seele. Wehmütig blickt sie auf das perfekte Rührei zurück, das ihre Mutter zubereiten konnte. Für sie ist das Ei ein Wunder, ein vollkommenes Lebensmittel, nur dass die Grausamkeit in der Tierhaltung und die des Kükenschredderns große Bedenken aufkommen lässt (S. 71). In ihrer Kindheit hatten die Milchkühe noch Namen und ließen erkennbar das tägliche Wunder geschehen, grünes Gras in schneeweiße Milch zu verwandeln (S. 177). Heute sind sich viele Menschen des immensen Leids der Tiere in der Massenhaltung bewusst. Dörrie erzählt von vielen Diäten, in denen sie bestimmte Lebensmittel nicht mehr aß, vegan wurde, sich als Rohköstlerin ausprobierte, und die 16/8-Regel auf 23/1 reduzierte. „Verzicht wurde mein neuer Genuss“ (S. 108), erklärt sie.
Als Filmemacherin ist Dörrie viel herumgekommen, erzählt von ihren Esserfahrungen in verschiedenen Ländern und hat insbesondere zu Japan eine enge Beziehung. Sie schreibt über ihre Erlebnisse bei den Dreharbeiten in einem Zen-Kloster, in dem sie auch wohnte und die Tagesabläufe mitmachen musste. Das hieß früh um drei schon durchgefroren und hungrig beim Meditieren zu sitzen. Und doch beschreibt sie in „Handarbeit“, dass die achtsame Zubereitung von Speisen, selbst das simple Putzen und Schnippeln einer Karotte, helfen kann, in seinem eigenen Leben anzukommen. Bei Dörrie hat der Humor immer einen hohen Stellenwert, und so schildert sie in Ein Quantum Trost, wie sie sich der Askese jenes Klosters entzog und Schokolade einschmuggeln ließ, die sie heimlich abends achtsam lutschte und genoss und in diesen Momenten ganz ohne Verzicht vollkommen im Hier und Jetzt verweilte. Natürlich schwärmt sie auch von ihrer Leidenschaft für die japanische Küche: von Reisbällchen, Sushi, Nudelsuppen und dem besten Tofu, das sie nur an einem Ort in Japan gefunden hat.
Das Kochen und das gemeinsame Essen haben einen hohen Stellenwert für Dörrie. Sie isst mittlerweile wieder Mischkost, vermeidet aber Verschwendung und plädiert für das Essen als Ritual: „... verlieren wir nicht etwas ganz Entscheidendes, wenn wir den Essensvorgang nicht mehr ritualisiert wahrnehmen? … Ich denke, wir isolieren uns von der Welt, wenn wir uns nicht jedes Mal klarmachen, wie viele Menschen, Tiere und Pflanzen daran beteiligt waren, um dieses Esse vor mir auf den Teller zu bringen.“ (S. 197)
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Die 58 Geschichten sind um die drei Seiten lang und stammen aus einer Kolumne in Essen & Trinken, die Dörrie von August 2016 bis Juni 2020 dort bestückte. Die notwendige Kürze in einem Printmedium erklärt, warum viele aufgeworfene Themen und Fragen nicht weiter ausgelotet werden. Es gibt leider kein Vor- oder Nachwort in dem Buch, in dem näher darauf eingegangen würde, z.B. auf den Zusammenhang von Kochen und Kultur sowie die Achtsamkeit im Sinne des Zen-Buddhismus. So fehlt es dem Büchlein insgesamt an Tiefe, die man nach den Filmen und bisherigen Büchern von Dörrie durchaus erwarten könnte. Auf der positiven Seite steht die kostbare Aufmachung mit Leinen-Einband, Goldbändchen als Lesezeichen und den abstrahierten Gemüse-Grafiken von Zenji Funabashi. Dadurch ist es ein ideales Gastgeschenk, wenn man zum Essen eingeladen ist. Es ist unterhaltsam, lässt die kritischen Fragen zumindest nicht aus, und regt durchaus dazu an, sich über unser Essen Gedanken zu machen und sich vielleicht eigene Geschichten darüber zu erzählen. Die Welt auf dem Teller steht besonders für die Wertschätzung des Essens, inklusive von Grundnahrungsmitteln und ebenso für den Genuss, der uns anhand von Lebensmittelskandalen manchmal abhanden kommen kann.
Helga Fitzner - 23. Oktober 2020 ID 12550
Diogenes-Link zu Doris Dörries
Die Welt auf dem Teller
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