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nachDRUCK # 2

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Roman

Die Macht

der Worte





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Mit ihrem Debütroman Die Geschichtensammlerin hat die US-amerikanische Professorin für Anglistik Jessica Kasper Kramer höchstwahrscheinlich ein Stück Weltliteratur erschaffen. Er spielt 1989 in Rumänien, wo die zehnjährige Ileana lebt, deren große Leidenschaft das Sammeln und Schreiben von Geschichten ist. Das ist aber unter der Diktatur des sich gottgleich inszenierenden Präsidenten Ceaucescu verboten, denn einzig sein Narrativ hat Gültigkeit, während alles andere bekämpft wird. Kasper Kramer schildert die sich überschlagenden Ereignisse aus der Perspektive der kleinen Ileana und bricht die Schrecken des Regimes und seines gewaltsamen Untergangs auf eine greifbarere Ebene herunter, und das Entsetzliche ist, dass es dadurch nicht weniger entsetzlich wird - nur behutsamer verpackt ist.

Ileana muss zu der Jugendorganisation der Jungen Pioniere, was ihr überhaupt nicht zusagt, aber sie ist stolz darauf, dass sie dort gelernt hat zu schweigen und ihre Gedanken für sich zu behalten. Diese vertraut sie ihren „Gesammelten Werken“ an, die stetig ergänzt werden und schon zu einer beachtlichen Größe angewachsen sind. In einer Atmosphäre, in der man nichts fragen darf, schon gar nichts hinterfragen, in der man nicht selber denken darf und auch seine Meinung nicht kundtun kann, hat sich das aufgeweckte Mädchen eine eigene Welt geschaffen. Diese pendelt zwischen Wirklichkeit und Fantasie, denn was der kindliche Verstand noch nicht erfassen kann, lässt das Kind ihr Alter ego, die Märchenprinzessin Ileana, erleben, und zwar in immer neuen Variationen. Damit gelingt es Ileana, die Ereignisse zu verkraften, und sie strebt ihrem Onkel nach, der Schriftsteller ist und Dichter, aber wegen eines Gedichtes derzeit inhaftiert und vermutlich schon tot ist.

Ihr Vater, ein Literaturprofessor, hielt ihre Geschichtensammlung bisher für kindliche Experimente, bis Ileana ihm eine vorliest. In der Schule wurde ihnen ein Bäckerjunge als Held angepriesen, weil er seine Eltern denunziert hatte. Jeder 30. Rumäne arbeitet als Spitzel für die Staatspolizei Securitate. Ileana hat das Ende umgeschrieben und den Bäckerjungen für seine Untat büßen lassen. Der Vater, der die literarischen Bestrebungen seiner Tochter bislang immer unterstützt hatte, ist besorgt. Sie ist schon viel klüger und erkenntnisfähiger, als er dachte: „...eine Lüge erkennen und die Wahrheit wissen, sind zwei grundverschiedene Dinge. Mein Vater weinte nicht nur, weil er um seinen Bruder fürchtete... Er hatte auch Angst um mich.“ (S. 19) Als die Familie eines Tages merkt, dass ihre Wohnung abgehört wird, schicken sie Ileana ans Ende der Welt, in ein abgelegenes Bergdorf, weit weg von Bukarest, um sie der Obhut ihrer Großeltern anzuvertrauen.

Im Bergdorf ist Ileana zunächst nichts gut genug. Sie mäkelt am relativ üppigen Essen ihrer Großmutter herum, weil sie nicht eingestehen will, dass sie so schlecht ernährt ist, dass sie die angebotenen Spiegeleier gar nicht verdauen könnte. Die Bauern haben ihre Nahrung und ihre Tiere in unmittelbarer Nähe und müssen nicht hungern. Sie könnten sich die streng und knapp rationierten Lebensmittel und das fast tägliche stundenlange Warten vor den Lebensmittelgeschäften in der Hauptstadt gar nicht richtig vorstellen. Die anderen Kinder sind Bauerntrampel, glaubt Ileana, muss aber dann die Erfahrung machen, dass sie nach dem selben gleichgeschalteten Lehrplan unterrichtet werden wie alle im Land. Da hat sie ihnen nichts voraus. Und Ileana hat noch einen riesigen Berg Hausaufgaben vor sich, mit dem die Kinder über die Sommerferien eingedeckt werden, denn das Regime hält unentwegt seine Hand über sein Volk und insbesondere die Jugend.

Langsam versöhnt Ileana sich mit dem Gedanken, im Dorf zu leben und auch nicht von den Eltern abgeholt zu werden, als die Schulferien vorbei sind. Denn die Großmutter erzählt ihr Märchen, Mythen und Legenden aus der Region, die Ileana immer mehr packen, denn sie handeln von Fabelwesen, vom Mut einzelner Helden und spenden Hoffnung. Als eines Tages ein Mann von der Securitate sich beim Wirt einnistet und ständig Fragen stellt, weiß Ileana, warum er da ist und muss nun als Kind schweigen und dafür sorgen, dass ihre Lieben unbehelligt bleiben. In ihrer Fantasie schreibt sie es so, dass die Märchenprinzessin Ileana von einer Hexe verflucht wurde und nicht mehr sprechen kann. Und dann erweist es sich, dass die Bauerntrampel gar nicht so dumm sind, wie Ileana zu Anfang meinte.

Um die wahre Faszination des Buches zu schildern, müsste man zu viel verraten. Das wäre aber zu schade. „Mir einen neuen Schluss auszudenken gab mir das Gefühl von Macht – in einer Welt, in der ich sonst so gut wie machtlos war. Es verschaffte mir Gewicht in Dingen, bei denen ich normalerweise nicht einmal gefragt wurde. Nur konnte ich leider mein eigenes Leben nicht auf die selbe Weise umschreiben“ (S. 326), erkennt Ileana.

Das Regime Ceaucescu endete im Dezember 1989, das heißt aber nicht, dass das Land danach zur Ruhe gekommen wäre. Kasper Kramer kennt diese Zeit nur aus Erzählungen und letztendlich kann man Die Geschichtensammlerin von Rumänien abstrahieren, denn es trifft auf jede Staatsform zu, die die Menschen ihrer elementaren Grundrechte beraubt. Deswegen ist das Wort – ob geschrieben oder ausgesprochen – so gefährlich und muss zensiert werden. Denn genauso wirksam wie die Manipulation des Denkens und Handelns ist auch die Macht der aufklärenden Worte. Wenn sie Wissen und Erkenntnisse vermitteln, kann man sie danach nicht mehr „entwissen“, und wenn diese Worte Sehnsucht nach Freiheit formulieren und Hoffnung wecken, stellen sie eine immense Kraft dar, deren Glut man nur schwer wieder zum Erlöschen bringen kann. Ileana, ihre Familie und das rumänische Volk überlassen ihr Narrativ nun nicht länger einer kleinen Elite, die den Rest der Bevölkerung manipuliert und mit Überlebensängsten überschüttet, sondern nehmen ihre Geschichte und deren Auslegung selbst in die Hand.

Es gibt keinen Märchenschluss, in dem die Bösen bestraft und die Guten verheiratet werden, und Ileana wird weiterschreiben müssen. Denn das Ende dieser universellen Geschichte über den Drang nach Selbstbestimmung, Wahrheit und Unabhängigkeit ist noch nicht gekommen.


Helga Fitzner - 17. Juni 2020
ID 12303
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