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Das ließ ihr dann doch keine Ruhe. Die britische Literaturagentin Elise Dillsworth war auf einen Artikel gestoßen, in dem eine US-amerikanische Autorin namens Diane Oliver (1943-1966) hochgelobt wurde und von der sie noch nie gehört hatte - jene studierte an der Universität von Iowa und nahm zuletzt an einer Autorenwerkstatt teil. Ein Motorradunfall riss die 22jährige „Farbige“ jäh aus dem Leben. Es waren gerade einmal vier Kurzgeschichten, die zu ihren Lebzeiten veröffentlicht worden waren, und zwei weitere posthum. Ihr wurde ein Talent und eine Lebensklugheit unterstellt weit jenseits ihrer jungen Jahre. Man betrauerte den Umstand, dass nun eine Begabung erloschen war, die mit vielen großen Schriftstellern hätte mithalten können und die sich zur einer führenden und wirkungsvollen Stimme der jungen Generation, namentlich der Frauen mit afrikanischen Wurzeln, hätte entwickeln können. Elise Dillsworth ging der Sache auf den Grund und kontaktierte eine Schwester und eine Nichte der Verstorbenen und wurde reichhaltig belohnt: In dem sorgfältig aufbewahrten Nachlass befanden sich u.a. acht unbekannte Kurzgeschichten, die nun aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt und kürzlich mit den sechs bereits veröffentlichten in der Kurzgeschichtensammlung Nachbarn publiziert wurden.

Der Sensationsfund bestätigt die Einschätzung von Olivers Zeitgenossen von der ungewöhnlichen Reife und dem riesigen Potential der jungen Frau, und er ist ein bedeutungsvolles Dokument aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, deren Höhepunkt Mitte der 1950er Jahre begann und mit der Ermordung von Martin Luther King jr. im Jahr 1968 abebbte, aber nie ganz verschwand. Diane Oliver verfasste ihre Geschichten, nachdem die Rassentrennung im Sommer 1964 offiziell aufgehoben war, und erlaubt uns einen Einblick in die Befindlichkeit der schwarzen Bevölkerung. Es war eine Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs, und die Geschichten spielen sich jenseits der medialen Berichterstattung im Alltag der Betroffenen ab.

Nach Jahren des Kampfes um mehr Gleichberechtigung war es mit der Abschaffung der Rassentrennung nicht getan, denn es oblag den „Farbigen“, diese auch durchzusetzen. In der Titelgeschichte Nachbarn geht Oliver der Frage nach, wie weit man dabei gehen sollte. Sie schildert anschaulich die Angst und die Nöte einer Familie, deren Sohn Tommy am kommenden Tag eingeschult werden soll. Er wäre der einzige Schwarze auf der von Weißen frequentierten Schule und eine Hundertschaft von Polizisten wurde bereitgestellt, um ihn am nächsten Morgen zur Schule zu begleiten. Der Widerstand eines Teils der weißen Bevölkerung ist groß, bedrohlich und gewalttätig. Darf man ein so junges Kind diesem Trauma aussetzen? Darf man andererseits eine historische Gelegenheit, die Gleichberechtigung auch zu etablieren, ungenutzt vorbei gehen lassen? In Die Kammer im obersten Stock ist der Vater einer jungen Frau der Auffassung, dass die Umsetzung der Bürgerrechte Priorität hat. Deswegen schickt er seine Tochter Winifred auf ein College, in dem sie die einzige „Farbige“ ist. Winifred ist es müde, ein Experiment des Vaters zu sein, beugt sich aber seinem Willen. Nach einer Mischung aus Ausgrenzung durch die Mitstudierenden und einer zunehmenden inneren Abschottung mit einem Rückzug auf ihr Zimmer nimmt Winifreds Psyche Schaden. Oliver schildert hier hervorragend die inneren und äußeren Zersetzungen, aber auch die Verantwortung ihrer Generation in einer historisch einmaligen Situation, die Möglichkeiten der Zeit beim Schopf zu packen und für ihre Bürgerrechte einzustehen.

Ein Gruppe von vier jungen Schwarzen geht in Vor der Dämmerung in ein Restaurant, das vorher Weißen vorbehalten war. Die weißen Gäste leisten passiven Widerstand, aber die Polizei verhaftet die vier jungen Menschen. Völlig widerrechtlich, aber das interessiert niemanden. In den weiteren Stories spielt die Abschaffung der Rassentrennung keine so dominante Rolle mehr. Oliver schildert den Alltag „farbiger“ Familien, die Abwesenheit von Männern und Vätern, die zurückkommen oder auch nicht. Sie lassen ihre Frauen und Kinder in Not und Elend zurück. Der Norden oder Chicago sind Wunschwelten, von denen sich einige ein besseres Leben erhoffen. In Nach Norden macht sich eine Mutter mit ihren Kindern genau dahin auf, in eine unbestimmte Zukunft.

Oliver ist weit entfernt davon, „Farbige“ (das war die damals offizielle Bezeichnung für Afroamerikaner) ausschließlich als Opfer darzustellen. In Kein Service hier hat sich ein Ehepaar in ein selbstgebautes Haus fernab im Wald zurückgezogen, nachdem ihr kleiner Sohn von Kindern dermaßen traktiert worden war, dass er die Sprache verloren hat. Sie wollen sich gezielt der behördlichen Einmischung in ihr Leben entziehen, bis eines Tages eine Dame auftaucht... Es ist nur zu hoffen, dass das Ende nicht von einer wahren Begebenheit inspiriert war. In Der Besuch geht die zweite Ehefrau eines Arztes nicht gerade zimperlich mit ihrer Stieftochter um. Die 16jährige kam erstmalig zu Besuch, um ihren Vater besser kennenzulernen. Auf ziemlich hinterhältige Weise wird das junge Mädchen von dessen Frau zermürbt...

Banago kalt ist ausnahmsweise eine recht heitere Erzählung. Vier College-Studentinnen sind zwei Monate lang in der Schweiz im Rahmen eines Austauschprogramms. Millie ist die einzige mit dunkler Hautfarbe, und die Dorfbewohner haben noch nie eine solche Person gesehen. Dadurch steht Millie zwar im Zentrum der Aufmerksamkeit, die aber aus Interesse und Neugier besteht. Zwei Monate lang kann sie die Erfahrung eines Lebens ohne den allgegenwärtigen Rassenhass machen. In Unser Ausflug ins Naturkundemuseum geht es wieder traurig zu. Eine Grundschullehrerin kann sich an den Gestank der ungewaschenen Kinder und an deren zerlumpte Kleidung nicht gewöhnen. Hausbesuche bei den Familien sind ein Alptraum, weil die Armut, aber auch die Resignation erkennbar sind. Selbst wenn ein Kind begabt ist, stehen seine Chancen sehr schlecht.

Spinnen weinen ohne Tränen ist der krönende Abschluss des Bandes. Nachdem sie über viele Jahre eine heimliche Beziehung zu einem „dunkelhäutigen“ Mann unterhielt, will die Weiße Meg seinen Heiratsantrag annehmen. Walt ist so hell, dass er als europäischer Südländer durchgehen könnte, ist aber teilweise afrikanischer Abstammung. Er ist ein gebildeter und wohlhabender Arzt, der seiner Frau ein Leben ohne Arbeit und finanzielle Sorgen bieten kann. Doch die weißen Freunde verabschieden sich nach und nach von Meg, und die Akzeptanz der schwarzen Freunde ihres Mannes ist zwar gegeben, aber es fehlt die Zugehörigkeit. Meg stellt fest, dass sie nun in keinem Alter mehr ist, in dem ihr die Männer nur so zufliegen, und dass sie in einem goldenen Käfig lebt und in Abhängigkeit von ihrem Mann. Damit teilt sie das Schicksal vieler ihrer Geschlechtsgenossinnen, und die Ungleichbehandlung, der Frauen ausgesetzt sind, macht vor keiner Hautfarbe halt. Es ist ein toller Schachzug diese allgemeingültige und über das Thema der Rassendiskriminierung hinausgehende Geschichte an den Schluss zu setzen und zeigt, dass Integration eine vielschichtige Angelegenheit ist.

Diane Oliver hat zeitlose literarische Meisterwerke geschaffen, die einen tiefen Einblick in die menschliche Natur und in soziale Strukturen gewähren. Einige hätte sie sicher noch überarbeiten wollen. Es ist tragisch, dass ihre Stimme verstummt ist, aber um so glücklicher kann sich die literarische Welt schätzen, dass wenigstens dieses Buch erscheinen konnte, auch wenn es so brillant geschrieben ist, dass man natürlich mehr lesen möchte. Das feinfühlige Vorwort schrieb die preisgekrönte afroamerikanische Autorin Tayari Jones.

*

Diese Besprechung beruht auf dem englischsprachigen Original.


Helga Fitzner - 28. Mai 2024
ID 14770
Verlagslink zu den Nachbarn von Diane Oliver


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