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Literaturzeitschriften sind aus der Mode geraten. Ob das an einem schwindenden Interesse für Literatur oder an der zunehmenden Bedeutung des Internets, gerade für die Veröffentlichung von Literatur liegt, die (noch) nicht das Format für eine Buchpublikation aufweist, lässt sich schwer sagen. Dabei haben Zeitschriften für die Literaturgeschichte eine immense Bedeutung gehabt, in früheren Zeiten sowieso, aber auch im 20. Jahrhundert. In der Sowjetunion sorgten sie dafür, junge Autoren und insbesondere solche, bei denen Verlage gezögert haben, sie zu drucken, an eine beachtliche Anzahl von Lesern zu bringen. So ist Alexander Solschenizyns Debüt Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, das den Ruhm des späteren Nobelpreisträgers etabliert hat, in der massenhaft gelesenen Zeitschrift Novyj Mir, einer von vielen, erschienen.

Im Nachkriegsdeutschland haben Zeitschriften wie Akzente, Sprache im technischen Zeitalter, Texte und Zeichen, Kürbiskern, die horen, Schreibheft, Sinn und Form, neue deutsche literatur, in Österreich PLAN, manuskripte, Wort in der Zeit, Literatur und Kritik, wespennest, Protokolle, Freibord, Kolik, Podium, Sterz, Die Rampe, SALZ Geschichte geschrieben. Jetzt hat der Claassen-Verlag innerhalb der Ullstein Verlagsgruppe, die es sich leisten kann, eine neue Halbjahreszeitschrift mit dem Titel Delfi und dem Untertitel Magazin für neue Literatur gegründet. Herausgeber sind die ehemalige taz-Redakteurin Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah, die Programmleiterin des Claassen Verlags Miryam Schellbach und der Spiegel-Autor Enrico Ippolito. Weil das anarchische Prinzip früherer Literaturzeitschriften weitgehend von Unterordnungen unter ein vorgegebenes Thema abgelöst wurde, kommt das erste Heft von Delfi mit dem Stichwort Tempel daher. Es ist, wie üblicherweise, so allgemein, dass es nicht irritiert, wenn sich einzelne Beiträge nur cum grano salis damit gemeint fühlen dürfen. Auch in Delfi haben manche Texte mit dem Begriff „Tempel“, den die Herausgeber so weit fassen, dass alles, von der eigenen Wohnung bis zum Körper, darunter fällt, so viel zu tun wie mit jedem beliebigen Wort aus dem Lexikon.

Gegliedert ist Heft 01 im Inhaltsverzeichnis, aber nicht in der Anordnung ganz traditionell nach Gattungen: Prosa, Lyrik, Interview, Comic. Dramatik wird im Vorwort angekündigt, kommt aber im ersten Heft nicht vor.

Das Heft enthält überwiegend deutschsprachige Texte, aber auch Übersetzungen aus dem Russischen und dem Englischen. Der gegenwärtige Hype um Abweichungen vom traditionellen Geschlechtermodell hat auch in Delfi seine Spuren hinterlassen. Man geht mit der Zeit.

Zu den bekannteren Autorinnen zählt Esther Dischereit. Sie hat ein Langgedicht in freien Rhythmen beigesteuert. Die Lyrik von Eileen Myles wiederum reiht Verse aneinander, die zum großen Teil aus einem Wort oder zwei Wörtern bestehen.

Michael Krüger hat einmal gesagt: „Jeder Tag ohne die Lektüre eines Gedichts ist ein verlorener Tag.“ Wenn er recht hat, dürfte es sehr viele verlorene Tage geben. Ob eine neue Literaturzeitschrift daran etwas ändern wird? Vielleicht kann eine Pythia im Tempel darauf Antwort geben. Wahrscheinlich lesen mehr Menschen jeden Tag den Börsenbericht als ein Gedicht oder auch eine Seite literarischer Prosa. Vielleicht ist der Comic von Noemi Y. Molitor im ersten Heft des Magazins für neue Literatur ein Eingeständnis dieses Zustands.


Thomas Rothschild – 31. August 2023
ID 14360
Verlagslink zu Delfi 1


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