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Roman

Wildfang

wider Willen





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„Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zuhause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanien rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde. Das Bühnenbild wechselte zwar je nach Jahreszeit, aber jedes Jahr kehrte der Sommer wieder mit seinem Licht, seinem Duft und den Brombeeren, die an den Dornenzweigen am Wegrand wuchsen.“ (Adeline Dieudonné, Das wirkliche Leben, S. 96)

*

Kann man aus der Kindheit ausbrechen, wenn sie unerträglich wird? Kann man den kleinen Bruder schützen? Das wirkliche Leben (2020; Orig. La Vrai Vie, 2018) erzählt atmosphärisch dicht aus der Perspektive einer namenlos bleibenden Heranwachsenden. Mit filigraner Wucht wird ein beengendes, ängstigendes Elternhaus beschrieben. Der Vater beherbergt als Hausherr daheim eine Trophäensammlung. Elefantenstoßzähne oder Hyänenköpfe, die er von der Jagd nach Hause brachte, werden seinen Kindern zu unheimlichen Vertrauten. Die Mutter widersetzt sich der immensen, vom Vater ausgehenden Zerstörungswut nicht. Sie duldet regelmäßige Misshandlungen und Schläge. Bald fühlt sich auch die heranwachsende Erzählerin vom Sadismus des Vaters bedroht. Er genießt es sichtlich, Angst zu verbreiten und Macht auszuüben. Mit kindlicher Naivität erträumt sich die Zehnjährige eine Zeitmaschine. Als sie älter wird, versucht sie sich mehr und mehr abzugrenzen, indem sie zaghaft in ihrer Reihenhaussiedlung Kontakte knüpft und woanders Zeit verbringt. Doch die zunehmende Eigenständigkeit der Tochter verunsichert und verärgert den kontrollsüchtigen Vater.

Die 37jährige Belgierin Adeline Dieudonné, selbst Mutter zweier Töchter, feiert mit ihrem Romandebüt international beachtliche Erfolge. Auch hierzulande ist Das wirkliche Leben ein Bestseller, ein Thriller über das Aufwachsen unter erschwerten Bedingungen. Dieudonné schildert das kindliche Erleben in kurzen, stakkatohaft getriebenen Sätzen: „Ich ertrug das Stillsitzen schlecht. Eine Stunde lang auf einem Stuhl zu verharren kam für mich einer furchtbaren Strafe gleich. Ich brauchte Bewegung!“ (S. 144)

Die Eigendynamik und das intensive Gefühlserleben ihrer jugendlichen Protagonistin fängt Dieudonné so lebendig ein. Eine über allem liegende Bedrohung erzeugt subtile Spannung. Das wirkliche Leben wartet bis zum Ende hin mit überraschenden Wendungen auf. Brutale Details werden jedoch teilweise zu reißerisch und schrill ausgeschmückt. Die Familienkonstellation mit der aufopferungsbereiten, passiv verharrenden und blassen Mutter erscheint ein bisschen überzogen. Randfiguren wie Professor Pavlović, der der Erzählerin Privatunterricht in Physik gibt, wirken unglaubwürdig und ein bisschen zu skurril überzeichnet. Ereignisse wie die Affäre mit dem Vater der Kinder vom Babysitting erscheinen klischeehaft. Manchmal wirkt auch die Beobachtungsgabe der erzählenden, jugendlichem Romanheldin zu abgeklärt, frühreif und neunmalklug ihre Situation reflektierend. Es scheint so, als hätte Dieudonné zu sehr die problematische Familienkonstellation von oben betrachtet. Dieudonné fühlt sich in ihre jugendliche Figur nicht altersgemäß genug ein, um authentisch von Ängsten und Befreiungsversuchen erzählen zu können. Der stimmungsvoll-kindliche Blick überzeugt dann aber doch glücklicherweise manchmal, etwa wenn die Protagonistin nachts mit ihrem Vater in den Wald zur Jagd fährt:

„Nach ein paar Kilometern bogen wir auf einen Waldweg ein, der sich leicht abfallend immer weiter hinein in die Dunkelheit, ins Herz der Finsternis schlängelte. Das schwache Mondlicht wurde von den Wipfeln der Bäume verschluckt, sodass der Waldboden in undurchdringlicher Schwärze dalag. Die Scheinwerfer des Wagens glitten über die Bäume, die aus dem Nichts auftauchten wie Riesen, bereit zum Aufprall. Sollte tatsächlich ein Wolf oder irgendein Raubtier durch diese Wälder streifen, würde er uns durch das Licht jedenfalls schon von Weiten bemerken.“ (S. 159)


Ansgar Skoda - 11. September 2020
ID 12456
dtv-Link zum Roman Das wirkliche Leben


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