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Roman

Aus dem

Prekariat





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Dissertationen werden massenhaft geschrieben über das verzerrende Bild bestimmter Bevölkerungsgruppen in der Literatur. Statistiken werden veröffentlicht, die den Anteil von Frauen unter den VerfasserInnen von Büchern abzählen. Die wirkungsmächtigste Diskriminierung in der Literatur aber wird widerspruchslos hingenommen, als sei sie ein Naturgesetz: die Absenz jener Menschen, die man heute euphemistisch „bildungsfern“ nennt. Die Literatur, wie sie in den Buchhandlungen und Bibliotheken ausliegt, in Rezensionen besprochen, in Universitätsseminaren analysiert wird, ist durch und durch bürgerlich. Die wenigen Bücher, die von Autoren aus der so genannten „Unterschicht“ geschrieben wurden – etwa Franz Michael Felders Aus meinem Leben und Reich und Arm, Franz Innerhofers Schöne Tage oder Gernot Wolfgrubers Herrenjahre –, sind wenig bekannt, haben es jedenfalls nicht in den Kanon der deutschsprachigen Literatur geschafft. Die Gruppe 61, der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt oder die Zirkel Schreibender Arbeiter, deren Leistungen und Irrwege differenziert zu bewerten wären, sind längst vergessen, ein Kapitel linksnostalgischer Folklore.

Das hat seine offensichtlichen Gründe. Die Fähigkeit zum differenzierten Schreiben wird in der Regel frühzeitig erworben, die Verführung, sie anzuwenden, durch die Sozialisation im Elternhaus entwickelt. Wer nicht zwischen Büchern aufgewachsen ist, wer Bildung nicht als selbstverständliche Voraussetzung des sozialen Aufstiegs erfahren hat, wird kaum in die Versuchung geraten, selbst Literatur zu produzieren. Das Paradox ist: die Betroffenen müssen sich erst die Bildungsvoraussetzungen erwerben, die sie benötigen, um zu beschreiben, was ihnen vorenthalten wurde, nämlich Bildung. Die Autoren wiederum, die aus dem bildungsbürgerlichen Milieu stammen, neigen in der Regel dazu, ihre Themen dort zu holen, wo sie sich auskennen: im Bildungsbürgertum eben und in dessen literarischer Tradition. Zudem hat das bestehende System wenig Interesse daran, Schreibversuche aus dem Prekariat zu fördern. Sie verweisen stets auf den Klassencharakter unserer Gesellschaft und befürworten tendenziell dessen Beseitigung. Sie bedeuten eine Gefahr für die Herrschenden, denen der bürgerliche Dichter Brecht stellvertretend prophezeit hat: „So, wie es ist, bleibt es nicht. / Wenn die Herrschenden gesprochen haben / Werden die Beherrschten sprechen. / Wer wagt zu sagen: niemals?“

*

Jetzt hat Christian Baron unter dem programmatischen Titel Ein Mann seiner Klasse einen autobiographischen Roman vorgelegt. Er erzählt von dem riesigen Fernseher an der Wand, der seinen „in Akademikerhäusern aufgewachsenen Freunden“ „als Statussymbol der Ungebildeten“ galt. Er erzählt vom Vater – ihn meint der Titel Ein Mann seiner Klasse –, von der heimlich Gedichte schreibenden Mutter, vom Bruder Benny, von den jüngeren Schwestern Laura und Lena, von Tante Juli und von Onkel Ralf, später auch von Tante Ella, von Opa Willy und von Opa Horst, vom Alkohol, von Geldknappheit und von Gewalt in der Familie. Er erzählt von der Überwindung einer schweren Krankheit, von der Schule, von der „Schande“ der Arbeitslosigkeit und vom Unterschied zwischen „Hunger haben“ und „Hungern“. Er erzählt von der Wohnsituation in der Kindheit. Die Begleitmusik im wörtlichen Sinne liefern die Hits der neunziger Jahre.

Das Buch endet mit dem Tod des Vaters. Ein paar Jahre davor hat der Erzähler seinen ersten Text in der Rheinpfalz veröffentlicht. Heute ist er Redakteur des Freitag. Ohne diesen weiten Weg aus der Kindheit in Kaiserslautern wäre Ein Mann seiner Klasse wohl nie geschrieben worden. Der Vater wird beweint, aber nicht idealisiert. Es ist kein Heldenepos geworden. Wohl aber ein Bericht aus einem Segment der Wirklichkeit, die die Literatur der Bestenlisten ausspart. Und sage da keiner, dieses Segment könne bedenkenlos vernachlässigt werden. Es nimmt mehr Raum ein als das Milieu der berühmten Schriftsteller, deren Bücher bevorzugt besprochen werden. Auch im Freitag.


Thomas Rothschild – 13. Januar 2020
ID 11927
Link zu Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron


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