Prozesse des
Abschiednehmens
|
|
Bewertung:
„Er war traurig. Eine Traurigkeit der Vergeblichkeit. Sie galt nicht dem, was gelebt und verloren, sondern was nicht gelebt worden war...“ schreibt Bernhard Schlink in einer der neun Erzählungen seines neuen Buches Abschiedsfarben. In Daniel, my Brother setzt sich ein Mann mit dem Selbstmord seines Bruders auseinander. „Am nächsten Tag kamen die Erinnerungen. Sie stahlen sich schon in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein.“ (S. 178). Schlink schildert eine Vielzahl von Abschieden, wie die von Menschen, Vorstellungen, Erwartungen und vieler anderer Gefühle: Sie alle erfordern eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die schmerzlich, beglückend und manchmal sogar beides sein kann. Der Abschied vom Bruder gelingt, seine Freundin beschreibt es so:
„'Du lockerst das Seil', sagte sie lächelnd und sprach davon, die Menschen, die für uns wichtig sind, im Guten wie im Bösen, seien wie Poller, an denen die Schiffe im Hafen festmachen. Das Seil könne fester oder lockerer um den Poller geschlungen sein, es könne mehr oder weniger Halt geben. 'Wird das Seil gelöst, ist das Schiff frei, wieder hinauszufahren.'“ (S. 197)
In Künstliche Intelligenz glaubt der Protagonist mit dem Tod seines langjährigen besten Freundes Andreas abgeschlossen zu haben. Sie hatten in der DDR gemeinsam an IT-Projekten gearbeitet, sogar an künstlicher Intelligenz, und auch in den Jahrzehnten danach eine innige Freundschaft gepflegt. Nun hat dessen Tochter die Stasi-Akte des Vaters angefordert, und auf einmal sieht sich der Freund mit einer riesigen Lebenslüge konfrontiert. Was ist, wenn aus den Unterlagen hervorgeht, wer Andreas damals verraten hat, als der in den Westen fliehen wollte und dafür im Gefängnis landete? - Schlink geht dabei mit kriminalistischem Spürsinn vor, der 76-Jährige ist habilitierter Jurist und übte diesen Beruf bis zu seiner Pensionierung auch aus. Vielleicht legen deshalb die meisten seiner Figuren auch Rechenschaft ab, zumindest vor sich selbst.
Mit seinem Roman Der Vorleser über Nazi-Verbrechen erlangte Schlink 1995 Weltruhm und schreibt seitdem weiter. In seiner Trilogie um den Privatdetektiv Selb geht es ebenfalls um Straftaten und wie weit das Gesetz und die Gerechtigkeit auseinanderklaffen können. Die Konflikte sind meist universell und werfen die Frage nach Schuld und Sühne auf. Anders als vor Gericht genießt Schlink es, in seiner Prosa fabulieren zu dürfen und Lösungen zu erfinden, die den Rahmen der Gesetzgebung sprengen würden, doch viel eher als ein Gerichtsurteil die Waagschalen der Gerechtigkeit wieder in die Mitte bringen. Aber ähnlich wie vor Gericht erleben wir in seinen Erzählungen Prozesse der Klärung und Einsichten in die Fakten der Geschehnisse, die am Ende ein klares Bild entwerfen. In Picknick mit Anna wird der Ich-Erzähler von einem Kommissar zur Aussage gedrängt, der sicher ist, dass dieser eine Straftat beobachtet hat. Doch der Mann hat eine ganz andere Agenda.
Schlinks Figuren sind weder repräsentativ noch stereotypisch, wie es manche Schule des Schreibens einfordert. Es kommen zunehmend Mehrteiler auf den Markt, die sich vorab auf ein bestimmtes Sujet und eine gewisse Art der Umsetzung festgelegt haben und mit jedem Band die Erwartungshaltung der Leserschaft erfüllen. Das ist sehr erfolgreich, engt aber den potentiellen Spielraum der AutorInnen ein. Bei Schlink ist das anders, er ist ein Wahrheitssucher, vielleicht weil er Jurist ist, und die kann überall verborgen liegen. Trotzdem sind seine Bücher exemplarisch, weil sie alterskluge Lebensweisheiten enthalten. Bei ihm finden wir mehr als Schwarz/Weiß-Töne, mehr als Abstufungen von Grautönen, sondern eine ganze Reihe von „Abschiedsfarben“, auf die der Titel die LeserInnen schon einstimmt. Aus alltäglichen Situationen entwickelt sich bei ihm oft Unvorhersehbares und Überraschendes. Die Erzählung Geliebte Tochter beginnt mit der liebevollen, standardmäßigen Erziehung eines Mädchens der gehobenen Mittelklasse und endet skandalös. Hier nimmt Schlink sogar Abschied von der Enthüllung, denn der Skandal wird verschwiegen: „So oft wird aus etwas Richtigem etwas Falsches. Warum soll nicht ebenso aus etwas Falschem etwas Richtiges werden können?“ heißt es dort am Schluss.
Den größten Nachhall hat wohl Geschwistermusik in der es um einen Jugendlichen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen geht, der sich in ein reiches Mädchen verliebt. Er wird freundschaftlich in deren Familie aufgenommen, weil er dem behinderten Bruder zum Freunde wird, aus der Liebesgeschichte mit dem Mädchen wird aber nichts. Jahrzehnte später begegnen sie einander wieder und es entfaltet sich ein Szenario von Schuld, Sühne, Liebe und Verantwortung, dessen Tiefe er in jungen Jahren gar nicht hätte erfassen können.
Aber was bleibt, wenn man sich von allen Verstrickungen des Lebens verabschiedet hat, von seinen Ängsten, Lügen, Hoffnungen und Verletzungen: Für Schlink bedeutet Schreiben eine Rückkehr in einen Urzustand, den er Heimat nennt. In seinen Gedanken über das Schreiben von 2011, in dem seine Heidelberger Poetikvorlesungen abgedruckt sind, definiert er Heimat als einen Anfang, an dem wir noch eins mit uns selbst und der Welt seien und VOR dem es noch nichts gegeben habe. Im Schreiben erobert er sich dieses Grundgefühl zurück, weil Heimat für ihn das ist, was wir lebendig halten. Sie habe ihren Ort in Büchern, auf der Bühne und auf der Leinwand, letztendlich in unseren Köpfen und Herzen, meint Schlink. Dort kann sie uns auch nicht mehr weggenommen werden, denn sie gehört zu den Erinnerungen, die uns ausmachen.
Abschiede sind ein Bestandteil unseres Lebens und frei nach Hermann Hesse wohnt jedem Ende ein Anfang inne. Der Protagonist in der letzten Erzählung Jahrestag ist ein alter Mann, der sich entschließt, über sein ihm unverdient erscheinendes Glück nicht zu reflektieren, sondern es einfach zu genießen. Abschiedsfarben ist kein Abschied für Schlink, er schreibt schon an seinem nächsten Buch.
Helga Fitzner - 11. August 2020 ID 12390
Diogenes-Link zu Bernhard Schlinks
Abschiedsfarben
Post an Helga Fitzner
Buchkritiken
Unsere neue Geschichte
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|