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nachDRUCK # 2

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Roman

Das Träumen

von einer

besseren

Wirklichkeit





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„Musik war schon immer unverzichtbar für unser Volk... Sie hat uns durch die Jahrhunderte der Verfolgung, der Verzweiflung, der Diaspora getragen. Wo immer Juden zusammengelebt haben, haben sie gesungen, haben die Psalmen auf diese Weise am Leben gehalten und auf ihren Wanderungen durch die Welt mitgetragen.“ (Anne Stern, Fräulein Gold: Scheunenkinder, S. 264)


Das [s.o.] erklärt der junge Rabbi Esra Rubin der jungen Frau. - Im zweiten Teil der Trilogie Fräulein Gold - Scheunenkinder von Anne Stern, ist die Berliner Hebamme Hulda Gold gezwungen, sich mit ihrer jüdischen Abstammung auseinanderzusetzen. Im Oktober 1923 halten die Wirtschaftskrise und faschistische Schlägertruppen Berlin im Würgegriff. Hulda hat sich wegen ihres jüdischen Vaters nie Gedanken gemacht, denn ihre Mutter war Christin, so dass sie nach jüdischem Gesetz keine Jüdin ist. Sie kennt sich mit dem Judentum überhaupt nicht aus:


„Doch in diesen Zeiten war es unmöglich, der Politik auszuweichen, sie durchtränkte das Leben der kleinen wie großen Leute, ob sie es wollten oder nicht.“ (S. 13)


Die Antisemiten und Rassisten scheren sich nicht darum, als was Hulda unter Juden gilt.

Die Faschisten haben zunächst aber „nur“ die Ostjuden im Visier, die sich nach den Pogromen ist Osteuropa im verarmten Berliner Scheunenviertel eingerichtet haben, als wären sie im Schtetl. Die Hebamme hätte vielleicht nur in der Presse von den Übergriffen dort erfahren, wenn sie nicht zu einer Hochschwangeren dorthin gerufen worden wäre. Sie geht zwar wacker wie immer ihrer Arbeit nach, gehört aber irgendwie nirgendwo mehr hin. Zu den orthodoxen Juden zählt nicht einmal ihr Vater, ein erfolgreicher aber familienuntauglicher Künstler, und jetzt wird Hulda wegen ihrer jüdischen Abstammung angepöbelt und sogar verletzt. Die zunehmende Verelendung durch die Wirtschaftskrise mit galoppierender Inflation und Nahrungsmittelknappheit gießt Öl ins Feuer der Rechtsextremisten. Man muss mit einem Koffer voller Geldscheine Brot kaufen gehen, ein Pfarrer sammelt die Kollekte in einem Wäschekorb, und es gibt Unruhen auf dem Markt, wenn die Ware schon so früh aus ist, dass sich lange Menschenschlangen ohne Nahrungserwerb wieder auflösen müssen. Die Polizei ist völlig überfordert, und Huldas Freund, der Kriminalkommissar Karl North, beklagt die schwarzen oder besser gesagt braunen Schafe bei der Polizei.

Wie im ersten Band der Trilogie Fräulein Gold – Schatten und Licht beschäftigt ein Kriminalfall Hulda und ihren Karl gemeinsam. Im Scheunenviertel ist ein Neugeborenes verschwunden, und Karl untersucht die Machenschaften von „Kindermaklern“, die Kinder zur Adoption oder als Arbeitskräfte vermitteln. Sie wissen anfangs noch nicht, ob ein Zusammenhang zwischen den Fällen besteht, wobei die Polizei keine Kapazitäten hat, nach dem Judenkind aus dem Scheunenviertel zu suchen, dessen einzige Chance Hulda ist, die es auf die Welt geholt hat...

Anne Stern schafft es, einen spannenden Kriminalfall zu erzählen, die politischen Vorgänge zwischen Mitte Oktober und Mitte November 1923 zu schildern und das kleine Universum um den Winterfeldtplatz ins Leben zu rufen. Da ist der freundlichen ältere Herr Bert, ein väterlicher Freund, der dort einen Kiosk betreibt, Huldas neugierige, aber liberal gesinnte Vermieterin Frau Wunderlich, ihr Ex-Verlobter Felix, dessen Ehefrau überzeugte Faschistin ist und Hulda diskriminiert. Karl North hat immer noch mit seinem talentierten Assistenten Fabricius zu kämpfen, der ihn allmählich überflügelt. Außerdem hat dieser mitbekommen, dass North heimlich trinkt, und tatsächlich kommt Karl kaum noch ohne Hochprozentiges aus. - Die Kombination Hulda/Karl ist ein gelungener Kunstgriff von Anne Stern. Karl ist ein Waisenkind, das keine Mutterliebe oder Familienleben erfahren hat. Er hat sich zwar eine respektable Stellung erkämpft, aber ihm fehlt es an Selbstsicherheit, die Fabricius im Übermaß besitzt. Karl ist sozusagen die erwachsene Version von den Kindern in den Elendsvierteln, für die Hulda mit ganzem Einsatz unterwegs ist, und er hat immer noch mit den daraus entstandenen Defiziten zu kämpfen. Er ist ein blondgelockter, besonders gut aussehender Mann, ohne zu wissen, wie attraktiv er ist, und glaubt, nicht gut genug für seine angehimmelte Hulda zu sein. Hulda hält sich zurück, weil sie weiß, dass eine mögliche Schwangerschaft sie in Abhängigkeit und Armut stürzen könnte. - Beide wissen, dass ihre Arbeit, so sie überhaupt gelingt, nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.

Nach diesen verzweifelten Tagen im Oktober 1923 wird am 1. November die Rentenmark eingeführt, wodurch wieder Stabilität eintritt und alsbald genügend Nahrungsmittel auftauchen. Am 8. und 9. November 1923 scheitert der Hitlerputsch, und Adolf Hitler wird inhaftiert. Hulda, ihr Umfeld, Karl North sind am Ende erleichtert, dass alles noch mal gut gegangen ist. Der Kripo-Beamte Karl North sieht das aber realistisch:


„Völkisches Gedankengut kann man nicht verbieten und nicht einsperren, dadurch wächst es nur weiter wie ein Geschwür. Und Hitler hat im Kittchen nun genug Zeit, zu überlegen, wie er statt durch eine Revolution lieber durch legale Mittel an die Macht kommt.“ (S. 399)


Am Ende steht Hulda vor einem riesigen Backsteinbau. Die II. Universitäts-Frauenklinik in der Artilleriestraße kann es an Renommee mit der berühmten Charité durchaus aufnehmen und sucht gerade nach einer erfahrenen Hebamme. Nach all der Armut, dem Elend und der Unsicherheit, mit denen sie sich fast täglich auseinandersetzen muss, wäre das eine gute Möglichkeit, in hygienischer und medizinisch fortgeschrittener Umgebung Kinder auf die Welt zu holen. Ihr Vater hatte ihr gegenüber mal die Kunst verteidigt:


„Kunst ist nicht Abbildung der Wirklichkeit, Kunst ist das Träumen mit offenen Augen von einer besseren Wirklichkeit.“ (S. 247f)


Vielleicht kann man ja auch im Leben mit offenen Augen träumen, allen äußeren Umständen zum Trotz... Mehr davon im dritten Teil, der im Frühjahr 2021 erscheinen soll.


Helga Fitzner - 12. Oktober 2020
ID 12526
Rowohlt-Link zu den Scheunenkindern


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