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Spezial
Haimo Hieronymus / A.J. Weigoni: "Unbehaust"
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Faszikel - digitale Maunfaktur
Ein Bild beschreiben heißt auch, es mit Schrift zu übermalen. Die
Beschreibung übersetzt es in ein anderes Medium. Die Struktur des Textes
ist: Ein Bild stellt das andere in Frage. Eine Schicht löscht die vorige
jeweils aus, und die Optiken wechseln. Dem bildenden Künstler Haimo
Hieronymus und dem Schriftsteller A.J. Weigoni geht es in ihrer Arbeit um
die Übersetzung in andere Medien, um die Bildung von Schichten, die simultan
und konsekutiv, Gedichte sichtbar/hörbar machen - wechselnde Optik, die
schließlich auch den Betrachter heilsam in Frage stellt.
Das Bild ist Materie, kein Anschauungsmaterial. Material, das zerstört
werden kann, um es neu zu fügen, andere Gedanken zu formulieren, neue
Zusammenhänge zu erschließen. Der Tastsinn des Beschauers wird angeregt, um
wieder negiert zu werden. Dabei entsteht kein Schock, sondern ein subtiler
Dialog zwischen Bild und Betrachter, zwischen Materie und Fügung. Anstatt
eines beliebigen Dekors der Geschwindigkeit entsteht eine leise Schwingung,
eine Vibration in der Oberfläche von Bild und Text. Diese fügt das Bild
zusammen, nicht Linien oder Linienkonstrukte für sich: Sie sind eingebunden
in eine Gesamtabsicht der Komposition. Aufgelöste Flächen in beständigem
Schwingen, im Gespräch und Streit mit den Lineaturen.
Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni gehen bei diesem Projekt vom Virtuellen
ins Materielle und zielen auf ein älteres Speichermedium, das mittels neuer
Medien hergestellt wird und mit analogen Medien zur gebundenen Form findet.
Die Entstehung einer Einheit von Schrift und Bild untersuchen Haimo
Hieronymus und A.J. Weigoni im Medium des Computers und setzen sie im
Neheimer Atelier um. Die "digitale Manufaktur" produziert ein »Faszikel«.
"Bereits der Titel seines jüngst erschienenen Lyrikbandes »Gewolltes
Blauauge«, der wohl meint, dass der Autor, oder sein lyrisches Ich, blauen
Augen nicht aus dem Weg geht, da er lieber ehrlich mit blauem Auge als
verlogen in weisser Weste leben will, lässt Grundmotive von Hans-Ulrich
Prautzsch anklingen: das Desperadothema, sein erster Erzählband hieß »Fünf
Desperados und eine Rothaarige«, samt seiner "Solidarität der Solitäre",
eine Sympathie für Aussenseiter, Verweigerer, Gescheiterte, und ein
Kämpfernaturell, das sich aus solcher Erfahrungswelt entwickelt und zum
Überleben nötig ist. Mit dem Kämpferischen im Autor, der auch Verleger und
Buchdrucker ist, korrespondiert der Name seiner "uräus-Handpresse". Die
altägyptische Uräus-Schlange gilt als äusserst wehrhaftes Wesen. Und das
Wort Uräus wird übersetzt mit: die sich Aufbäumende.
Wer keinen künstlerischen Trends folgt, kann Nebenflüsse schaffen,
Mäanderströme der Kultur. Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni versuchen in
ihrem Künstlerbuch die Erlösung von Erfahrungswelten durch virtuelle
Neukomposition. Die Gedichte nehmen Strukturen und Ausdrucksweisen moderner
Medien und Kommunikationstechniken auf und transformieren sie mit
aufklärerischem Anspruch, indem sie öffentliche Sprache spielerisch virtuos
verwenden und zugleich kritisch reflexiv ihren Funktionswert hinterfragen.
Die Texte selbst nähern sich grafischen Formen. "Ein Strich in der
Landschaft", lehrt uns der Volksmund, sei ein dünner Mensch. Tritt man etwas
weiter zurück, wird aus dem Strich eine Linie und der Betrachter sieht sich
vor die Fragen gestellt: Wo endet die Schrift, wo beginnt die Zeichnung, wo
geht sie ins Zeichen über, das übers Sichtbare hinausweist?
Die expressive Farbigkeit von Haimo Hieronymus, die man als vital bis
aggressiv empfinden kann, korrespondiert mit dem Stachel der Analyse in
Weigonis Texten wie umgekehrt die relativierende Denkhaltung derselben mit
den ambivalenten Bedeutungen der Farben Schwarz, Rot und Weiß, die
zusammenwirken, während sie Kontraste bilden. Der Ernst paart sich indes mit
Leichtigkeit. Praktisch alle Techniken dieses Buches, die aphoristische
Struktur, der gestische Duktus, die ironischen Untertöne, die Unterwanderung
vorgeprägter Sprache, die umgedeuteten Sprichwörter, die filmischen
Momentaufnahmen, dienen einem reflexiv vom Intellekt gelenkten und dabei
häufig parodistischen Spiel.
Indem Weigoni Postulaten, die ihm abstrakt erscheinen, ob Mythen,
Moralvorgaben oder Utopien, mißtraut, doch zugleich den Mangel an ideell
Gelebtem in vorgefundener Wirklichkeit konstatiert, verweist er auf ein
Grundproblem postmoderner Intellektualität. Sarkasmus und Ironie sind so
auch ein Refugium gegen totale Ernüchterung, obwohl, oder weil, manche
Stellen dem kaltgenauen Blick Heiner Müllers oder Ernst Jüngers allerdings
schon nahekommen."
Holger Benkel
»Faszikel« ist zum
Subskriptionspreis von 900,- Euro erhältlich über: Werkstattgalerie Der
Bogen / Möhnestr. 55 / 59755 Arnsberg
»Unbehaust« ist erschienen bei: uräus-Handpresse / Postfach 11 06 05 / 06020
Halle
Kurzporträt: Der Verlag uräus-Handpresse
Während Prof. Willi Sitte Weinbergslagen vor der Verdatschung rettete,
rettete den anderen vor dem heute epidemisch auftretenden Existenzruin eine
Datsche im Weinberg. Hans-Ulrich Prautzsch, der extraktreiche Künstlerbücher
keltert, kann nun bald seinen eigenen Wein keltern. Auf dem "Hintergrund des
Verlagssterbens. in den neuen Ländern" verlor der Schriftsteller seine
Verleger. Er "verbesserte" sich zum eigenen Setzer, Drucker, Gestalter und
Verleger von Künstlerbüchern. Hans-Ulrich Prautzsch gründete 1991 in Halle
die uräus-Handpresse. Schicksalhaft dankt er den Namen seiner Handpresse dem
Naumburger Karl Richard Lepsius, dessen Vater übrigens einen Weinberg im
Naumburger Steinmeister besaß, und die wissenschaftliche Ägyptologie
begründete. Aus Lepsius »Das Totenbuch der Ägypter« (1842) erfahren wir,
dass die grüne Schlangengöttin Wadjit (griech. Uto) als Sonnenauge des
Allgottes Re, die Uräusschlange als Insignie trug. Aus ihr ging die
Papyrosstudie hervor. Die schöne Göttin gilt damit als Urheberin des
Schreibmaterials. Wie Lepsius ab 1872 die Bücher der königlichen Bibliothek
hütete, so bringt sie heute Prautzsch im Höhnstedter Kelterberg unter dem
Zeichen der Uräus hervor.
Prof. Dr. hab. Karl-Dieter Gussek
uräus-Handpresse
Postfach 11 06 05
06020 Halle
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A. J. WEIGONI:
ZUM UNBEHAUSTEN MENSCHEN
Text: Jens Pacholsky, (Dieser Artikel erschien bereits im goon Magazin. Der Autor und Redakteur des goon Magazins Jens Pacholsky gestattete uns die Veröffentlichung auf unserer Internetseite |
Foto oben: A. J. Weigoni
Als Nietzsche vor über einhundert Jahren
den Tod Gottes proklamierte, erschuf
er die Sinnleere des Lebens wie
auch die Eröffnung ganz anderer Freiheitsräume,
als wir bis dato kannten.
Seitdem durchirrt die Menschheit
diese Räume und verliert sich. Im
Zeitalter der kulturellen Globalisierung
und Traditionsverschiebungen
bleibt der Mensch als strauchelndes
Wesen auf den Straßen der Zivilisationen
zurück und sucht nach den
Bruchstücken seiner selbst. Die
Künstler A.J.Weigoni, Haimo Hieronymus
und der Handpressendrucker
Hans-Ulrich Prautzsch zeichnen das
Bildnis der klaffenden Persönlichkeit
in ihrem Künstlerbuch »Unbehaust«
poetopathologisch auf und führen
zugleich eine »poetische Untersuchung
über das ›Kunstwerk im Zeitalter
der technischen Reproduzierbarkeit‹
zwischen Gutenberg und Internet
« (Weigoni).
Was ist eine poetopathologische
Aufzeichnung?
Weigoni: Der Hauptfigur, Jo Chang,
ist das Leben entglitten. Sie versucht
es auf dem Papier mit Kanjis (chinesische
Schriftzeichen) wieder zu ordnen.
Versucht das, was wir alle tun,
nämlich dem Leben, wenn es schon
keinen Sinn hat, in ihren Aufzeichnungen
wenigstens eine erzählerische
Ordnung zu geben. In ihren poetopathologischen
Aufzeichnungen kämpft
Jo Chang gegen das Vergessen, das
Verlassenwerden, die Gesellschaft,
Gott und den Tod.
Wird durch das Zitieren vieler aktueller
gesellschaftlicher Themen in diesem
persönlichen Monodrama auf
kleinster Ebene das Drama der Welt,
der höheren Ebene, gespiegelt?
»Unbehaust« ist ein Stück über die
(mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb
der Unfreiheit der Bedingungen.
Jeder träumt den autonom-autistischen
Traum vom Leben als Held. Jo
Chang misstraut diesem Traum. Sie
führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt
ihn. Das Leben bietet andere Realitäten.
Und mehr noch – andere Traumata.
Jo Chang erkennt die seelischen
Verkrüppelungen, Restriktionen und
kommunikativen Verarmungen, das
Orientierungsdefizit der Mitmenschen,
ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral,
Neurosen und den Lebensverzicht.
Diese Perspektive birgt reizvolle
Chancen für kleine Grausamkeiten
und unerwartete Wahrheiten.
Das Projekt »Unbehaust« ist eine
Vermischung moderner Ästhetik und
Technologie mit der alten.
Wir schlagen mit »Unbehaust« nicht
nur einen Steg zwischen den Künsten
(Malerei/Poesie), sondern auch
eine Brücke zwischen den Zeiten und
produzieren ein Künstlerbuch. Zugegebenermaßen
ist das elitär. Es gibt
im deutschen Sprachraum keine 500
Menschen, die meine Gedichte richtig
lesen können. Die Höchstform findet
also unter Ausschluss der Öffentlichkeit
statt. Arno Schmidt hat gesagt,
er wäre mit 100 Lesern zufrieden,
und zitierte James Joyce, der
nur zwölf Leser haben wollte.
Wird das Stück irgendwann einmal
als Theaterstück erlebbar sein?
Wir haben gerade »Unbehaust« mit
Bibiana Heimes als Jo Chang als Hörspiel
aufgenommen. Nirgendwo entfalten
sich Gedichte so wie auf der
Bühne, einem Stück Theater. Dies als
Wunsch an meine Fee: Ich möchte alle
drei Stücke (mit dem Langgedicht
Señora Nada, Sissi-Stück Oden an die
Zukunftseelen) auf der Bühne hören
und sehen.
- »Unbehaust« erscheint in einer
Auflage von 100 Exemplaren
(350 Euro) bei der uräus-Handpresse,
Halle 2003
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Haimo Hieronymus / A.J. Weigoni:
Künstlerbuch "Unbehaust"
Das Künstlerbuch "Unbehaust" wird am 21. 09. 2004 in der Galerie "Der Bogen" vorgestellt.
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Wirtschaftlich gesehen ist Lyrik Unsinn, aber Betriebswirtschaft ist im
Leben eben nicht alles. Lyrik wäre nach allen ökonomischen Gesichtspunkten
schon immer zum Aussterben verurteilt gewesen, und trotzdem
hält sie sich nach wie vor, notfalls eben in der Form der Samisdat.
Das Künstlerbuch "Unbehaust" ist eine poetische Untersuchung über das
"Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" zwischen
Gutenberg und Internet. In ihrer Arbeit untersuchen Haimo
Hieronymus und A.J. Weigoni Schriftbilder und Scans im Zeitalter zunehmender
Immaterialität. Welche Art von Bildlichkeit ist da im Begriff zu entstehen?
Der bildende Künstler Haimo Hieronymus und der Schriftsteller A.J. Weigoni
schlagen mit dem Künstlerbuch "Unbehaust" nicht nur einen Steg zwischen den
Künsten (Druckgrafik / Poesie), sondern eine Brücke zwischen den Zeiten.
Gemeinsam mit dem Handpressendrucker Hans-Ulrich Prautzsch betreiben sie
eine digitale Manufaktur, bei der die Instrumente der neuen Medien zum
Einsatz kommen. Als Werkzeuge setzen sie einen leistungsfähigen Rechner,
Scanner und Laserdrucker ein. Mit Hilfe der geeigneten Software
verarbeiteten sie Texte und Bilder. Der Druck geschah nach Gutenbergschen
Regeln mit Bleisatz auf Werkdruckpapier.
Beim Holzschnitt auf Bütten durchdringt die Farbe das Papier. Haimo
Hieronymus, A.J. Weigoni und Hans-Ulrich Prautzsch gehen dabei vom virtuellen
wieder ins Materielle, zielen auf ein älteres "Speichermedium" ab, das aber
mit den neuen Medien hergestellt wird, dem Künstlerbuch. Schrift und Bild
waren im Buch des Mittelalters eine Einheit. Künstler des Bauhauses schufen
im 20. Jahrhundert Bücher von hohem gestalterischen Niveau. Die Entstehung
einer Einheit von Schrift und Bild haben die Artisten im Medium des
Computers untersucht und mit der uräus-Handpresse umgesetzt. Die digitale
Manufaktur produzierte das Künstlerbuch "Unbehaust".
Die fragilste der literarischen Formen gilt gemeinhin als deren teuerste,
und dies im zwiefachen Sinn: Die Randständigkeit der Lyrik abseits des
ökonomischen Gewinns steht in direkter Proportion zu der hohen
symbolischen Wertschätzung, mit welcher man sie bedenkt. Lyrik scheint ein
Gut zu sein, das zugleich sein eigener Marktpromoter ist. Wenn es gut geht,
schafft sich Lyrik eine Gesellschaft, die bereit ist, sie am Leben zu
erhalten.
"Auf der Kenntnis einer weitgehend zivilisierten und untergebrachten Welt
einen Begriff wie "Unbehaust" aufzubauen, erzählt einmal mehr von der
Skepsis der Künstler, mit der sie den so genannten Tatsachen des Lebens
begegnen. Und die Frage nach dem Sinn des Lebens begleiten sie oftmals mit
der Möglichkeit seiner Sinnlosigkeit.
Dem entgegenhalten kann man zumindest eine erzählerische Ordnung.
Zwischen Leben und Tod sind wir bemüht, uns eine Heimat aufzubauen. Dies
gilt erst recht für unsere Innere. Und dass gerade beim Liebesakt, bei dem
neues Leben entstehen kann, Eros und Thanatos sich begegnen, mag manch einem
absurd erscheinen, zeigt aber gerade in dieser scheinbaren Absurdität das
kurze Aufleuchten einer möglichen Sinnhaftigkeit. So sind wir bei dem
Bemühen um eine erzählerische Ordnung stets auch auf der Suche nach einer
gedanklichen Behausung. Die Objekte, Bilder und Texte von Haimo Hieronymus,
A.J. Weigoni und dem Handpressendrucker Hans-Ulrich Prautzsch sprechen
davon."
Peter Meilchen
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»Unbehaust« ist erschienen bei: uräus-Handpresse / Postfach 11 06 05 / 06020
Halle
»Faszikel« ist zum Subskriptionspreis von 900,- Euro erhältlich über:
Werkstattgalerie Der Bogen / Möhnestr. 55 / 59755 Arnsberg
Weitere Informationen finden Sie unter: www.weigoni.de
Eine Hörprobe von "Unbehaust" finden Sie unter: www.weigoni.de
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