Stéphane Hessel - "Ô ma mémoire"
Gedichte, die mir unentbehrlich sind Grupello Verlag 2010 ISBN 978-3-89978-124-3
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Widerstandskämpfer, Diplomat und Lyrikfreund
Stéphane Hessel berichtet aus seinem Jahrhundertleben
Er ist Picasso, Max Ernst, Walter Benjamin, de Gaulle, Nelson Mandela und vielen anderen begegnet. Ende dieses Monats kehrt er an seinem dreiundneunzigsten Geburtstag zum Besuch nach Berlin zurück, in die Stadt, in der er am 20. Oktober 1917 geboren wurde: Stéphane Hessel.
WELTBÜRGER
Seine Eltern waren der jüdische Schriftsteller Franz Hessel und Helen Hessel, die in den 1920er und 1930er Jahren als Modejournalistin in Deutschland gearbeitet, später nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich im Untergrund gelebt und Anfang der 1960er Jahre als Übersetzerin von Vladimir Nabokovs Lolita hervorgetreten ist. Stéphane Hessel übersiedelte 1924 mit seinen Eltern nach Paris, wo er auch heute mit seiner zweiten Frau lebt. Seit 1939 ist er französischer Staatsbürger. Als Diplomat war er ab Oktober 1945 Mitglied der französischen Delegation bei den Vereinten Nationen in New York und an der zwei Jahre währenden Ausarbeitung der Charta der Menschenrechte beteiligt, zu deren Mitunterzeichnern er am 10. Dezember 1948 gehörte. »Es war eine richtige Weltorganisation mit neuen Ideen und vor allem mit dem Sinn, nicht nur Frieden gegen Krieg zu tauschen, sondern auch Grundwerte zu entwickeln, die durch die brutale Naziherrschaft verloren gegangen waren«, so Hessel. Anschließend hat er im Auftrag der UNO und des französischen Außenministeriums die Welt bereist, die Entkolonisierung vorangetrieben und in vielen Konflikten vermittelt. Demokratie, Entwicklungshilfe und Menschenrechte sind die Bereiche, für die sich Hessel bis heute nachdrücklich einsetzt, von Afrika bis Gaza. Man darf ihn zu Recht einen Weltbürger nennen. Nicht nur, weil ihm der französische Staat den Titel »Ambassadeur de France« verliehen hat, sondern vor allem, weil er als Kosmopolit in mehreren Sprachen und Kulturen beheimatet ist.
ÜBERLEBEN
Die positiven beruflichen Daten aus Hessels Leben überdecken das schreckliche Schicksal, das er erleben musste. Im Mai 1941 hatte er sich der französischen Résistance angeschlossen, war im selben Jahr aus deutscher Kriegsgefangenschaft über Montpellier, Casablanca und Lissabon nach London geflüchtet. Von dort wurde er drei Jahre später auf Spionagemission nach Paris geschickt, wo er am 10. Juli 1944 von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde. Dort freundete er sich mit dem Publizisten Eugen Kogon an, der ihm half, dem Grauen zu entrinnen. Hessel überlebte nur, weil er in die Identität eines verstorbenen Gefangenen schlüpfte, der unter seinem Namen verbrannt wurde. 1945 gelang ihm die spektakuläre Flucht aus dem Zug auf dem Weg nach Bergen-Belsen.
Eugen Kogons ältester Sohn Michael hat Hessels Originalausgabe »Ô ma mémoire – la poésie, ma nécessité« kongenial ins Deutsche übersetzt.
POETISCHE TRILINGOLOGIE
Alle Autobiografen schreiben referentielle Texte: sie beziehen sich auf die historische Realität, zugleich sind sie aber ihrer subjektiven Autorposition verhaftet, die sie im allgemeinen nicht überwinden können oder – wie im Falle Stéphane Hessels – nicht überwinden wollen.
Erinnern wir uns: Elias Canetti hat einen mehrteiligen Autobiografie-Zyklus veröffentlicht, für den er 1981 den Nobelpreis erhielt. Hessel hat ein einbändiges, ganz ungewöhnliches, sehr persönliches Werk vorgelegt, das sich in diesem Bücherherbst wohltuend vom Wust eitler politischer Bekenntnisliteratur abhebt: er nennt es eine »poetische Trilingologie«. Darin stellt er, das vergangene Jahrhundert als »militanter Europäer« durchmessend, sein berufliches und privates Leben im Spiegel englischer, französischer und deutscher Lyrik dar: »Manche Gedichte wecken in mir ein besonderes Gefühl, und ich finde in ihnen etwas, das ich brauche«, beschreibt Stéphane Hessel seine ganz besondere Liebe zur französischen, englischen und deutschen Literatur. 88 Lieblingsbeispiele hat er ausgewählt – von Villon, Shakespeare, La Fontaine, Platen, Hölderlin, Keats, Mörike, Baudelaire, Rilke, Queneau, Apollinaire und anderen.
MIT DEM HERZEN GELERNT
Hessel schildert in der bewegenden Einleitung, welche Gedichte eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt haben – so die Anfangszeile von Shakespeares Sonett Nr. 71: »No longer mourn for me when I am dead« bei seiner Verhaftung durch die Gestapo am 10. Juli 1944. Die Gedichte waren für ihn eine Überlebenshilfe: »Jedes von denen, die mich besonders berühren, bereitet mich darauf vor, besser dem Tod zu begegnen.« Er erfreute sich schon beim Lesen an ihrer Form- und Klangschönheit, erst recht jedoch beim Rezitieren. Dem ging freilich der Aneignungsprozeß voraus, den er als »Lernen mit dem Herzen« bezeichnet. Damit zielt er auf die französische und englische verbale Umschreibung fürs Auswendiglernen: apprendre par cœur und to learn by heart. Beide Wendungen gründen auf der Vorstellung der griechischen Antike vom Herzen als dem Sitz von Intelligenz, Gedächtnis und Gefühl. »Ich bin meinem Gedächtnis sehr dankbar dafür, dass es mich nicht im Stich lässt«, freut sich Stéphane Hessel über seine erstaunliche Vitalität.
Christoph Gutknecht - 23. Oktober 2010 ID 00000004892
Stéphane Hessel, "Ô ma mémoire"
Gedichte, die mir unentbehrlich sind
Aus dem Französischen übertragen von Michael Kogon. Mit einem Nachwort von Bernd Witte. Übersetzungen der französischen und englischen Gedichte im Anhang
Grupello Verlag
Preis: 22,90 Euro
ISBN 978-3-89978-124-3
Siehe auch:
http://www.grupello.de
http://christoph-gutknecht.de
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