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Nicola Bardola - "Schlemm"

Gewonnenes Spiel, Roman
A1 Verlag, Herbst 2005
ISBN 3-927743-79-8, 208 Seiten, gebunden


Freiheit, Feigheit, Freitod

Nun ist der Tag festgelegt, die Kinder sind informiert: Der neunte Dezember.
Nach 46-jähriger Ehe werden die Eheleute Paul und Franka Salumun freiwillig und gemeinsam aus dem Leben scheiden. Die Sterbehilfe-Organisation ROWS unterstützt sie bei ihrem Vorhaben. Paul hat Blasenkrebs. Er will keine Operation mit unsicherem Ausgang, nicht leiden. Bei Franka besteht ebenfalls Verdacht auf Krebs.
„Der neunte Dezember“ ist kein Termin für sie. Er ist ihre Deadline.

In seinem Erstlingswerk „Schlemm“ erzählt der 47-jährige Journalist und Redakteur Nicola Bardola aus der Sicht des Sohnes Luca das Leben des Paares: Vergangenheit, Erinnerungen, Gegenwart, Kinderkriegen, die Eltern der Eltern, Freundschaften, Bridgespiele, Nähe und Ferne in einer Langzeitbeziehung, Kinder-Elternbeziehung, Berufliches. Leidenschaften und Geheimnisse. Mit den LeserInnen begleitet er die Vorbereitungen zum Freitod seiner Eltern.
Nicola Bardola ist in Zürich geboren und hat in Bern, München und Zürich Germanistik, italienische Literatur und Philosophie studiert. Er hat seine Philosophen gelesen. Er weiß zu zitieren. Er spart dabei nicht: Werfel, Kierkegaard, Montaigne. Rainer Maria Rilke eröffnet den Reigen. Wolfgang Koeppen, Ilse Aichinger, Seneca folgen.
Man lernt die Bridge-Bibel, das „Gold Book“ kennen, und erfährt, dass Bridge kein Glücksspiel ist, sondern Stille und Vergnügen bedeutet.
Man erfährt viel über die Schönheit des Engadins. Bräuche werden erklärt. Im Engadin öffnet man die Fenster beim Sterben, „damit die Seelen der Toten hinauskönnen“. Man erfährt, was Seneca auf dem Sterbebett diskutiert haben soll und dass Peter Noll „ohne Urinbeutel leben wollte, oder gar nicht“. Immer geht es um den Tod.
Man erfährt überhaupt sehr viel. „Schlemm“ ist ein wahrer moderner Bildungsroman.
Hinter allem steht das Sterben.
Die Kapitel heißen ganz unspektakulär „eins“, „zwei“, „drei“. Darin werden auf 208 Seiten komplette Leben und zwei Todesfälle verstaut: Eheleben, Alltagskompetenzen, Rezepte für Pizzateig, Tagebuch-Notizen, die letzte Wanderung, letzte Geständnisse (oder lieber doch nicht?), die letzten Zigaretten, Abschiedsbriefe.
Letzte Gedanken, unbeeinflußbar. Ungesagtes.

Assistierter Suizid, aktive Sterbehilfe sind in Deutschland mit Tabu und Strafe belegt. Kommt das Thema zur Sprache herrscht rigorose Abwehr. Die Debatten um aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid sind meist moralisch und ablehnend.
Bei „Schlemm“ geht es um den assistierten Suizid. In der Schweiz, in den Niederlanden und in Belgien bietet sich für unheilbar kranke Menschen diese legale Möglichkeit. Der Sterbewillige muß in der Lage sein, selbst den Todestrank aus Natrium-Pentobarbital einzunehmen, nur so kann die Organisation den Tod begleiten.
Auch aus Deutschland reisen jährlich zirka 250 Menschen in die Schweiz, um assistiert ihr Leben zu beenden. Ludwig Minelli, Gründer von Dignitas, sagte Regina Kerner in einem Interview in der Berliner Zeitung: „Alle 43 Minuten gibt es Deutschland einen Suizid, sie sind die Hauptursache der Verspätungen der Deutschen Bahn. Aber weder Politik noch Kirchen reden darüber“. Das Trauma der unschuldigen Mitmenschen, die mit dem Freitod anderer konfrontiert sind, bleibt unberücksichtigt.

„Schlemm“ löst einen Reigen von Gefühlen aus: Trauer, Beklemmung, Bestürzung, Freude, Ruhe, Unbehagen. Und sehr viel Nachdenken. Der Roman beschert einem, was einen guten Roman ausmacht: Spannung. Nikola Bardola überzeugt durch das ungewöhnliche Thema, seine Inhaltsfülle und seine schlichte Sprache.
Nur ohne moralische Hysterie kann so ein Roman entstehen.
„Schlemm“ ist unprätentiös, manchmal schwer, manchmal leicht. Manchmal lyrisch, dann „schneit es Butterflocken“ - und manchmal wird es bitter: „Franka hätte Paul gerne einmal gesagt, dass sie Stellen am Körper hat, die er nie berührt hat. ...Aber das verliert mit den Jahren an Bedeutung.“
Viele halten es mit Epikur, der die Ansicht vertrat: „Der Tod geht mich eigentlich nichts an, denn solange ich lebe, ist er nicht, und sobald er eintritt, bin ich nicht mehr“.
Fakt ist: Alle sterben irgendwann. Aber man stirbt auf jeden Fall nicht doof, wenn man „Schlemm“ gelesen hat - und sich danach vielleicht im Fall der Fälle zum unterstützten Freitod entschließt.
Und: Es dürfte schwer sein, „Schlemm“, in seiner sprachlichen Schönheit und inhaltlichen Qualität, zu übertreffen.


Hilde Meier , red.-berlin, 22. März 2006
ID 00000002304
Nicola Bardola
Schlemm
Roman
A1 Verlag
München
ISBN 3-927743-79-8
208 Seiten, gebunden
€ 18,40 [D]/sFr 32,50
Herbst 2005




Siehe auch:
htttp.//www.a1-verlag.de




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