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Rezension

Philip Roth - "Nemesis"

Roman
Hanser Verlag, 2011
ISBN 9783446236424


Die griechische Rachegöttin Nemesis ist mehr als nur eine göttliche Finanzbeamtin mit der unangenehmen Aufgabe, moralische Steuerhinterziehung zur Anzeige zu bringen. Sie sorgt vielmehr für das universelle moralische Gleichgewicht im Kosmos und verfolgt dabei blind diejenigen, die das göttliche Recht aufgrund ihrer Hybris mit Füßen treten.

Das klingt so, als hätte dies nichts mit unserer heutigen Welt zu tun. Doch in Wahrheit fehlt die Idee der Nemesis als Allegorie einer ausgleichenden Balance auch in unserer Gesellschaft nicht. Denn solange es Menschen gibt, wird diese Idee tief in ihrer Natur verankert sein. Genauer gesagt lassen sich ohne diese Vorstellung keine Geschichten über Menschen erzählen. Und deshalb kommt kein guter Geschichtenerzähler ohne das Nemesisprinzip aus. Philip Roth kennt und nutzt dieses klammheimliche Gesetz des Erzählens schon seit seinen ersten Romanen. In dem neuesten Roman wird Nemesis in Anspielung an die klassische Dramentheorie nun zu einem Formprinzip, das aber zugleich den Stoff darstellt, den der Roman komponiert.

Diesmal heißt der Held Bucky Cantor und dieser Mann scheint so etwas wie das Instrument der Rachegöttin zu sein. Ob es sich dabei in einem menschlichen Sinn um „Gerechtigkeit“ handelt, ist die heuristische Frage, die das architektonische Prinzip dieser Erzählung bildet: Wir schreiben den Kriegssommer 1944 und die schicksalhafte Bestrafung, die Roth hier inszeniert, stellt die weltgeschichtlichen Ereignisse auf den Kopf: Während die Schulfreunde dem Kriegsgott in Europa geopfert werden, sinnt Nemesis auf den heimischen Sportplätzen der Schule auf Rache an den Daheimgebliebenen. Es sind jene Felder des Ruhms, die schon seit der Antike als Arenen des übermenschlichen und frevelhaften Siegeswillens verehrt wurden. Hier will der Lehrer Cantor die ihm anvertrauten Halbwüchsigen zu echten Männern machen. Während also die einen auf den Schlachtfeldern eines sinnlosen Krieges krepieren, erliegen die anderen in der Heimat einer Polio-Epidemie, die jene Unschuldigen im besten Fall zu Krüppeln werden lässt. Denn noch gibt es keinen Stoff gegen den heimtückischen Virus.

Bucky Cantor, der in dem jüdischen Viertel von Newark/ New Yersey arbeitet, in dem er als Halbwaise bei den Großeltern aufwuchs und wo seine Mutter bei der Geburt starb, hat seinen Vater, einen Spieler und Kriminellen, nie gesehen. Vaterlos zu sein bedeutet für Cantor auch, ohne heldenhafte Ikone zu leben. Ohne männliches Vorbild. Cantor wird überdies nicht rekrutiert, was ihn anfangs ein wenig betrübt, weshalb er seine heroische Aufgabe bald in der soldatischen Ertüchtigung der Jungs seines herunter gekommenen Viertels erkennt. Als sich die Polio-Erkrankung epidemisch ausbreitet und klar wird, dass es keinen Schutz hiergegen gibt, kämpft er mannhaft und blind gegen die galoppierende Apokalypse.

"Warum treffen solche Tragödien immer Menschen, die es am wenigsten verdient haben?" Diese an die Theodizee gemahnende Frage stellt nicht nur der Held, sondern mit ihm jeder Leser, jeder Mensch beim Anblick von Leid, Unglück und Schmerz. Cantors Antwort auf die absurde Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz: Tugend, Zähigkeit, Willenskraft, Stärke. Dies jedenfalls sind die Stoffe, aus denen Bucky Cantor sein persönliches Gegengift mixt. Lass dich nicht herum schubsen und als jüdischen Schwächling beschimpfen - so lautet sein Credo und die jungen Kerle danken es ihm mit grenzenloser Bewunderung. Als er eines Tages einen feindseligen Italiener mutig zum Teufel jagt, wird er endgültig zu ihrem Helden, der den Sieg über Willkür und Gemeinheit symbolisiert.

Doch die tödliche Wendung, man ahnt es, die Roth dieser Geschichte verleiht, lässt nicht lange auf sich warten: Bucky selbst scheint Verursacher und Verbreiter der Epidemie zu sein. Der Held, der an vorderster Front gegen die Nemesis kämpfte, war am Ende nur der Handlanger des Todes. Mehr noch: Gerade Buckys wilde Entschlossenheit, sein Aufbäumen gegen die Zerstörungswut, seine heldenhafte Haltung sind der Grund dafür, dass sich das Gift der Rachegöttin so verheerend und wirkungsvoll verbreiten konnte.

Merkwürdige Dialektik der Schuld! Merkwürdige Verstiegenheit menschlichen Ermessens! Roth erzählt wie zumeist in den vergangenen Jahren als Reporter alter Schule: Ohne jedes falsche, will sagen: verlogene Pathos. An einer Stelle bemerkt der Großvater, ganz im Sinne des alten Heideggers, alles im Leben habe seinen Preis. Dieser sei ohne Erklärung zu entrichten. Darüber lässt sich am Ende wohl kaum verhandeln. Roths Held „erhält sich“, wie der Dichter Rainer Maria Rilke einmal lautmalerisch schrieb, und sein Untergang war für ihn nur ein Vorwand zu sein: seine letzte Geburt. Auch Cantors Ende war vermutlich ein Vorwand: Zuletzt siegt die Erkenntnis, dass sein Selbsterhaltungstrieb nur eine sinnlose Laune des Schicksals war.


Jo Balle - red. 29. April 2011
ID 5183
Philip Roth, NEMESIS
Roman – übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag, 2011
ISBN 9783446236424
Gebunden
224 S.
18,90 EUR (D) / 28.90 sFR (CH) / 19.40 € (A)



Siehe auch:
http://www.hanser-literaturverlage.de


E-Mail an Jo Balle



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