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Unsere Neue Geschichte (Teil 33)

Brücken bauen und Lücken schließen




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Es war der 4. Januar 1897 in der Nähe der Stadt Benin in Nigeria: Die britischen Truppen zogen in Richtung des Königspalastes mit der Absicht, dort künftig Zölle und Tribute einzufordern. Ob sie das in friedlicher Absicht durchsetzen wollten, war mehr als fraglich, und so überfielen nigerianische Soldaten das unvorbereitete Camp und töteten bis auf zwei Militärangehörige alle Briten. Dieses Ereignis ging als Benin-Massaker in die Geschichte ein (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Staat Benin, dem ehemaligen Dahomey). Dem war allerdings eine Jahrhunderte lange Zeit der meist gewalttätigen Kolonialisierung und Versklavung der afrikanischen Länder vorausgegangen; und es war abzusehen, dass es mit der relativen Unabhängigkeit des wohlhabenden Königreichs schnell vorbei sein würde, das durch geschickte Politik über Jahrhunderte eine europäisch-westliche Übernahme weitgehend hatte verhindern können. Das angerichtete Massaker konnte für Benin nicht gut ausgehen. Schon am 12. Januar 1897 erfolgte die Strafaktion der Briten, nach der die Stadt und der Palast in Schutt und Asche lagen, Männer, Frauen und Kinder getötet und ihre Kultur- und andere Güter geplündert worden waren. Der militärischen Überlegenheit der Europäer hatten weltweit kaum welche der kolonialisierten Länder etwas entgegenzusetzen - aber es ist daraus das Phänomen eines seit 500 Jahren gewachsenen antikolonialen Widerstands hervorgegangen.

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Die Artefakte aus Nigeria gelangten nach London, wo insbesondere viele der berühmten Benin-Bronzen vom Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) erworben wurden. Derzeit wird erstmalig die gesamte Sammlung dieser 96 Bronzen bis zum 11. Juli 2021 gezeigt. Mit der im Augenblick nur digitalen Ausstellung Resist! Die Kunst des Widerstands befinden wir uns mitten in der vielfältigen, komplexen und äußerst problematischen Geschichte der Gegenwehr, der Spirale von Gewalt und Gegengewalt, des Kampfes um Souveränität, der Diskussion um die Restitution von Raubkunst, der offensichtlichen Unzerstörbarkeit menschlichen Selbstbestimmungswillens, der Kreativität, diesen auszudrücken und vielen anderen Fragen. Seit zwei Jahren ist die dynamische Niederländerin Nanette Snoep die Direktorin des RJM: „Wir stellen die Geschichte nicht nur aus der Sicht der Kolonialherren dar, sondern auch aus der der Kolonialisierten... Mir ist es aber wichtig, dass nicht nur die Geschichte der Gewalt verfolgt wird, sondern auch die der Ermächtigung der Geknechteten durch Widerstand und Resilienz.“ Denn hier wäre sonst wieder ein europäisches Museum unter Leitung einer weißer Europäerin am Werke, das die eigentlich Betroffenen außen vor ließe, meint Snoep.



Eins von 96 Exponaten im RJM, Sammlung Benin, Rautenstrauch-Joest-Museum, Teil des It´s Yours Raumes von Peju Layiwola | Foto (C) Francis Oghuma/ RJM


Daher gibt es den „It's Yours!-Room“, der von verschiedenen KuratorInnen aus kolonialer Sicht gestaltet wurde. Die Idee dahinter lautet: Es kann nicht um uns gehen, wenn wir nicht dabei sind, d. h. ohne dass wir Teil dieses Prozesses sind. Für das ehemalige Königreich Benin macht sich die nigerianische Künstlerin und Kunsthistorikerin Peju Layiwola stark, die sich für die Restitution einsetzt. Sie sagt in einem ausführlichen Video-Interview mit Nanette Snoep, dass diese geraubten Objekte im kollektiven Gedächtnis Nigerias fehlen. Heute arbeiten junge KünstlerInnen in Nigeria durchaus noch mit Bronze, u.a. zum Thema Antibabypille, es ist für die kulturelle Identität aber wichtig, den unterbrochenen kunsthistorischen Anschluss wiederherzustellen. Für sie ist die Rückgabe der Raubkunst Teil des postkolonialen Widerstands. Der findet auf friedlichem Forschungs- und Verhandlungswege statt: im Falle von Resist! sogar im Rahmen eines gemeinsamen Projektes.

Viele wissen vielleicht nicht, dass es auch eine Kolonialisierung innerhalb von Europa gegeben hat. Z.B. haben die Roma und Sinti 600 Jahre lang Diskriminierung erlebt. Erst 1982 fanden die geschätzten 500.000 Roma offizielle Erwähnung, die in Vernichtungslagern während des Dritten Reiches ermordet wurden. Die ungarische Kunsthistorikerin und Kuratorin Tímea Junghaus bekommt hier die Gelegenheit, den langen Kampf um die kulturelle Selbstbestimmung der Volksgruppen zu thematisieren. Dabei kommt es teilweise auch auf einen inneren Widerstand an, zudem haben die Roma und Sinti auch zur kulturellen Vielfalt Europas beigetragen (wenn man allein an den Einfluss der „Zigeuner“-Musik denkt).

Die namibischen Aktivistinnen Esther Utjiua Muinjangue und Ida Hoffmann erinnern an den von Deutschen begangenen Genozid an den Herero und Nama in Namibia, dem einstigen Deutsch-Südwestafrika. Aktivismus und Kunst gehen hier Hand in Hand und doch weit darüber hinaus. Denn für die Schrecken gibt es heute noch Nachweise. Nach dem Völkermord wurden 3.000 Menschenschädel über die ganze Welt verteilt. Als Muinjangue ein Archiv für Schädel besucht hatte, waren das für sie keine Objekte, sie nahm spirituelle Verbindung zu ihren Vorfahren auf. „Für die Museen mögen es Schädel sein, für mich sind es Angehörige meines Volkes.“ Die jetzige Plattform dafür ist eine Chance, die emotionalen Wunden zu heilen, das geht über moralische und politische Verantwortung hinaus. Sie will auch die deutschen BesucherInnen erreichen. Und zwar um Brücken der Solidarität zu bauen. Es sind nicht die Hereros und Namas, sondern die Deutschen, die Aufzeichnungen gemacht haben, darunter Fotos von unbekleideten gehängten Frauen, von Frauen, die die Schädel ihrer eigenen Leute reinigen müssen und andere Bilder des Grauens. Die Hereros und Nama wurden so dezimiert, dass sie auch 116 Jahre danach noch in der Minderheit sind, zudem wurde ihr Reichtum, die Viehherden, abgeschlachtet, sodass sie sich bis heute ökonomisch nicht davon erholt haben. (Die Berliner Charité hat im Jahr 2011 bereits 20 Schädel zurückgegeben).

Schließlich stellen die Kölner Aktivistinnen Elizaveta Khan und Mona Leitmeier das Integrationshaus e.V. in Köln-Kalk vor. Dadurch verbinden sie anti-kolonialen und lokalen Widerstand von Menschen aus der Diaspora in Köln miteinander. Gerade wir Deutschen fragen uns wohl öfter, was wir getan hätten, wenn wir einer ähnlichen Situation wie unsere Vorfahren im Dritten Reich ausgesetzt würden. „Was hättest du gemacht?“ „Was muss man tun, um Menschen dazu zu bewegen, bei so etwas nicht mitzumachen“, fragt Kahn, eine Sozialpädagogin mit asiatischen, slawischen und jüdischen Wurzeln, die den Verein 2010 in ihrem Wohnzimmer auf eigene Kosten gegründet hat. Neben sozialen Projekten und Aktivitäten im Stadtteil gibt es dort auch Sprachkurse und praktische Hilfe. Khan betont: „Die Menschheit braucht Museen, weil wir sonst den Bezug zu unserer Geschichte verlieren.“

Wie fühlt sich Unterdrückung an? Hätten wir als Kolonialisierte dem Druck standgehalten? Hätten wir die Angst ausgehalten? Wären wir Kompromisse eingegangen, oder hätten wir uns gar unkritisch gefügt? Hätten wir vielleicht sogar mitgemacht oder Gegengewalt angewendet? Resist! zeigt, wie viele Arten von Widerstand es gibt. Er kann blutig sein, eine innere Geisteshaltung, ein verbales oder schriftliches Aufbegehren, eine kreative Umsetzung, eine gewaltfreie Bewegung wie die von Gandhi und vieles mehr. Kunst, Musik und Tanz gehören auch dazu. Nanette Snoep hat seit ihrer Amtsübernahme für ein offenes Museum gesorgt mit Bürgerbeteiligung und Mitgestaltung. Das Integrationshaus war z.B. bei den Pilotprojekten von der „Baustelle“ dabei, wo solche Formate ausprobiert wurden. Es werden alle Seiten gehört und wahrgenommen. Von besonderer Bedeutung ist die Augenhöhe. Resist! macht die tief verwurzelten kolonialen Denkweisen und Strukturen deutlich, unterstreicht auch die oft eingleisige Vorgehensweise von Museen. Dieses Projekt ist anders, es ist ein Prozess. Es werden im Lauf der Zeit weitere Videos und Aktionen folgen und hoffentlich bald persönliche Besuche möglich sein. Auch Snoeps Entschluss, mit der Eröffnung nicht bis zur Aufhebung der Maßnahmen zu warten, ist ein Akt des kreativen Widerstands. Der hat zur Folge, dass die Ausstellung gründlicher und nachhaltiger dokumentiert wird, als das ohne die Schließung geschehen wäre. Das ist sehr vorteilhaft, weil wir an dieser Stelle nur einige wenige Schlaglichter auf die umfangreichen Aspekte werfen konnten, um damit eine insgesamt bedeutsame, konstruktive und visionäre Ausstellung zu würdigen.

„Die psychologischen Nachwirkungen der kolonialen Gräueltaten werden ausgedrückt und durch Aneignung und die heilsame Erfahrung von Gemeinschaft Teil eines Verarbeitungsprozesses. Mit dem (Wieder-)Erlernen alten Wissens durch das Praktizieren von Sprache, Techniken und Ritualen, lehnen sich die Künstler*innen gegen den Verlust der eigenen Vergangenheit auf und konstruieren vielstimmige Zukunftsentwürfe“, heißt es im Pressetext dazu.



Raumansicht - im Hintergrund Bilder von Omar Victor Diop | Foto (C) Francis Oghuma/ RJM

Helga Fitzner - 16. Februar 2021
ID 12751
Weitere Infos siehe auch: https://rjm-resist.de/


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