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Ausstellung

Minimalistisches

und Monumentales

AI WEIWEI in Düsseldorf


Bewertung:    



Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei (* 1957) war bei der Eröffnung genauso überwältigt wie die BesucherInnen der einfach nur AI WEIWEI genannten Ausstellung in der Kunstsammlung NRW Düsseldorf. Denn es schien schier unmöglich einen Ort zu finden, in dem alle seine berühmten fünf raumfüllenden Installationen zu sehen sein würden. Jetzt sind sie es: Straight (2008-2012), Sunflower Seeds (2010), S.A.C.R.E.D. (2011-2013), Laundromat (2016) und Life Cycle (2018). Doch dabei beließ es das Kuratoren-Trio Susanne Gaensheimer, Doris Krystof und Falk Wolf nicht, denn es stellte insgesamt eine Werkschau der vergangenen vier Jahrzehnte auf die Beine und damit die größte Ausstellung aller Zeiten mit Werken Ai Weiweis. Die musste auf beide Häuser der Kunstsammlung K20 und K21 verteilt werden und sie ist phänomenal.

Es mag verwundern, aber der in Peking geborene Ai Weiwei hatte tatsächlich eine frühe Verbindung zu zwei Düsseldorfern. Als er Kind war, wurde sein Vater, ein systemkritischer Künstler, in den Norden Chinas verbannt, wo der kleine Weiwei aufwachsen musste. Dort war er von der Dichtung Heinrich Heines beeindruckt und erkannte in ihm einen Menschen, der unter einem einschränkenden Regime litt. Von 1978 bis 1981 studierte Ai Film in Peking und anschließend Design in New York. Dort kam er u.a. mit Konzeptkunst und Pop Art in Berührung und entwickelte seinen eigenen Stil. Ai gilt mittlerweile als der chinesische Joseph Beuys (ein weiterer Düsseldorfer), der mit seiner Kunst gestaltend auf die Gesellschaft einwirken wollte. Ais Motto lautet: „Alles ist Kunst, alles ist Politik“, beide sind für ihn untrennbar miteinander verbunden.

*

Straight:
Im Jahr 2008 ereignete sich in der chinesischen Provinz Sichuan ein schweres Erdbeben, bei dem über 70.000 Menschen ums Leben kamen. Über 5000 der Opfer waren Schulkinder, deren Schulen einstürzten, während z. B. Verwaltungsgebäude daneben stehen blieben. Ai gehörte zu den AktivistInnen, die in der betroffenen Region eigene Recherchen betrieben, denn die offizielle Berichterstattung war spärlich. Der Beton für die Schulen war minderwertig und die Armierungseisen, die die Schulgebäude stabil halten sollten, hatten nachgegeben. Ai ließ Tausende der verbogenen Stäbe einsammeln, vom Beton befreien und wieder gerade hämmern, sodass sie wie neu aussehen, als ob nie etwas geschehen wäre, - und problemlos ausgeführt werden konnten. Einzig die Anordnung der Stäbe in verschiedenen Ausstellungen zeigen die Trauer hinter dem ordentlichen Bild: In Düsseldorf sind die Stäbe gar in ihren Kisten geblieben und wie Särge angeordnet. Auf einer riesigen Tapete an der Wand sind die Namen aller Schulkinder aufgeschrieben, die bei dem Erdbeben ums Leben kamen: Es waren 5196 Kinder, die letzte auf der Liste ist das Mädchen Zhu Guiying. Einige Museumswärter haben mitbekommen, dass manche chinesische BesucherInnen entsetzt reagieren, denn ihnen war das Ausmaß der Katastrophe nicht bekannt, weil es von den Medien heruntergespielt worden war. Ai wurde wegen seines Engagements in der Sache 2011 an einen unbekannten Ort verschleppt.



Gerade gehämmerte Stäbe der Erdbebenkatastrophe in Sichuan und die Namen der über 5000 ums Leben gekommenen Schulkinder an der Wand | Foto: Helga Fitzner


Sunflower Seeds:
100 Millionen aus Porzellan gefertigte und handgemalte Sonnenblumenkerne, das ist alles und doch so viel. Sie wurden in Jingdezhen gefertigt, wo früher für den Kaiserpalast Porzellan hergestellt wurde. Heute ist die Region strukturschwach und 1600 Frauen waren froh, für zwei Jahre regelmäßige Arbeit zu bekommen. Die Interpretation ist vielschichtig: Der chinesische Machthaber Mao Tse-tung (1893 – 1976) ließ sich mit der Sonne vergleichen, folglich hatte sich das Volk, Sonnenblumen gleich, nach der Sonne auszurichten. Die von ihm gegründete Volksrepublik China regierte er von 1949 bis 1976, was ausreichte, die Jahrtausende alte chinesische Kultur für mehrere Jahrzehnte zu unterbinden. Da das alte China für sein Porzellan berühmt war, ist die Wahl des Werkstoffes bereits eine Aussage. Ai hat als junger Mann bewusst Antiquitätenmärkte besucht, um sich zumindest teilweise das fast verloren gegangene Kulturgut anzueignen. Die Millionen Sonnenblumenkerne zeigen aber auch den Zustand des Individuums in einer Massengesellschaft, insbesondere im Zusammenhang mit Diktaturen.

An der Wand desselben Raums hängen 13.719 künstlerisch gestaltete Schuldscheine, die den Spendenden die Rückzahlung zusagen, I.O.U. Wallpaper (2011-2013). Noch während die Ausstellung der Sunflowerseeds in der Tate Modern in London lief, wurde Ai 2011 verhaftet und ohne Anklage 81 Tage festgehalten. Danach verlangte man von ihm die Zahlung von umgerechnet 1,7 Millionen Euro angeblicher Steuerschulden. Die konnte er nur mit Hilfe von Spenden aufbringen, die er mittlerweile zurückgezahlt hat. Ebenfalls an den Wänden sind zwölf aus Legosteinen hergestellte Bilder der chinesischen Tierkreiszeichen Zodiac angebracht. Auch sie sind ein chinesisches Kultursymbol, das modernisiert und in erweiterte Zusammenhänge gestellt wurde, mit dem Reichstag, dem Eiffelturm oder dem Weißen Haus im Hintergrund. Wie die anderen Exponate kreisen sie um die Frage, ob wir vorherbestimmt sind, sei es durch gesellschaftliche Bedingungen oder unser Tierkreiszeichen, oder inwieweit es so etwas wie individuelle Freiheit gibt.

S.A.C.R.E.D.: Die Installation besteht aus sechs Eisenbehältern, die Ai und seine jeweils zwei Bewacher in halber Lebensgröße in seiner klaustrophobischen Zelle zeigen. Diese waren ständig anwesend, sodass es keinerlei Privatsphäre gab, weder beim Essen, Schlafen, Duschen oder der Verrichtung der Notdurft. Man kann durch kleine Sichtfenster Blicke in die Container werfen. Die Bewacher waren junge Männer um die 19 Jahre, die diesem schrecklichen Zustand ebenfalls ausgesetzt waren, wenn auch nur auf Zeit.

Laundromat: Ai fühlte sich 2015 von der Flüchtlingskrise in Europa besonders betroffen. Er hatte von den chinesischen Behörden gerade wieder seinen Reisepass zurückerhalten, als er sich auf den Weg machte und in 23 Flüchtlingscamps seinen Kinofilm Human Flow drehte. Der Film ist in Düsseldorf neben etlichen anderen Videos zu sehen. Idomeni an der griechisch-nordmazedonischen Grenze war ein Ort, an dem ungefähr 10.000 Flüchtlinge gestrandet waren und unter unsäglichen Bedingungen hausen mussten. Die Installation sieht aus wie eine riesige Kleiderkammer mit 40 Kleiderständern. Nach der Zwangsräumung des Lagers hat Ai 2046 zurückgelassene Kleidungsstücke gesammelt, die gewaschen, geflickt, gebügelt, nummeriert und dokumentiert wurden. Sie sondern keinen Geruch ab, wie wir ihn aus Second-Hand-Läden kennen. Kinderkleidung, Anoraks, Pullover, Unterwäsche, alles wurde sorgfältig wiederhergestellt als stumme Zeugen einer humanitären Katastrophe. Auf dem Boden befinden sich Zeitungsmeldungen aus der Zeit und an den Wänden Fotos aus dem Flüchtlingslager.



Kleidung aus dem geräumten Flüchtlingslager Idomeni, die gewaschen und dokumentiert wurde | Foto: Helga Fitzner


Life Cycle ist ein Flüchtlingsboot in Originalgröße, das aus filigranem Bambus gefertigt, und mit Sisalgarn befestigt wurde, beides traditionelle Werkstoffe für chinesische Drachen. Das Boot ist 17 Meter lang mit 110 Passagieren an Bord, darunter zwölf in Gestalt der chinesischen Tierkreiszeichen. Wieder stellt sich die Frage, inwieweit wir überhaupt selbstbestimmt leben können. Ai sagt von sich, dass er selbst ein Flüchtling ist und schon als Kind die Erfahrung der Verbannung machte. Er wisse, wie es sich anfühlt, keine Stimme zu haben und ein Fremder zu sein, da er auch seit Jahren nicht mehr in China lebe.



Das 17 Meter lange Boot kann abgeschritten und umrundet werden | Foto: Helga Fitzner


Ai ist weit mehr als nur ein kritischer Aktivist oder Künstler, er hält den Grundgedanken der Humanität aufrecht, der vor allem in unseren aktuellen Krisen unabdingbar ist. Wieder ertrinken Menschen im Mittelmeer, immer noch werden Missstände verharmlost und Menschenrechte verletzt. Am 17. Juni 2019 hat es in der Provinz Sichuan wieder ein Erdbeben gegeben, das aber schwächer ausfiel als das von 2008. Dort treffen die eurasische und indische Kontinentalplatte aufeinander, weshalb es absolut notwendig ist/wäre, dort erdbebensicher zu bauen.

Ai Weiwei benennt die Dinge, macht sie durch seine künstlerische Umsetzung verständlich und publik. Seine Kritik geht weit über China hinaus und ist mit den Flüchtlingen auch mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Er schult die Empathie und den Blick, der sensibilisiert und erweitert wird, sodass wir uns des maroden Kerns einiger Missstände bewusst werden, die nur an der Oberfläche übertüncht und geordnet sind. Und eigentlich beantwortet er auch die Frage, was man als Einzelner schon bewegen könne, denn das kann man in den Räumlichkeiten der Düsseldorfer Kunstsammlung selber begutachten.


Helga Fitzner - 19. Juni 2019
ID 11514
Weitere Infos siehe auch: http://www.kunstsammlung.de/ai-weiwei.html


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