Der berühmte
Zwickel-Erlass
SPORTS/NO SPORTS
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
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Paillettenkleid, Tom Ford, Herbst/Winter 2014, Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen | © MKG
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Bewertung:
Sportkleidung darf nicht tief ausgeschnitten sein, auch Männer müssen den Oberkörper bedecken und sollen dem Zwickel-Erlass folgen, d.h. im Schritt befindet sich ein zusätzlich eingenähter Stoff. Der Zwickel (ein Muss!) soll so das Abzeichnen der Geschlechtsteile verhindern. Frauen haben zudem Scham-Röckchen zu tragen. So schreibt es die ethisch und religiös motivierte Regelung der Kleiderordnung beim öffentlichen Baden um 1932 vor. Das war üblich bis in die 1960er Jahre.
Very preußisch!
Und wie ist es heute? Sportkleidung sollte vor allem eng anliegen, körperbetont zeigt man seine durchtrainierten und optimierten Partien. Enorm in Form hieß bereits 1983 im ZDF eine 5-Minuten-Aerobic-Sendung. Da wird das Geschlecht durch einen hochgezogenen String eher betont und läßt so auch die Beine länger erscheinen.
Beine durften Frauen des späten 19. Jahrhunderts nun gar nicht zeigen - hatten sie überhaupt zwei Beine? Nach dem Reitrock gab es den überdimensionierten Hosenrock für's Fahrrad. Und in den Turnverein wurden Frauen auch erst ab 1897 aufgenommen. Da trugen sie allerdings ein Turnkorsett. Turnen ist nun out, es heißt fortan Sport. Zu sehen ist in der Ausstellung das erste Sportkorsett von Triumph, es ist besonders luftdurchlässig, und mit Gummifäden passt es sich dem Körper an und nicht umgekehrt.
Inzwischen gibt es aber von der Marke Speedo Schwimmanzüge, die so extrem eng anliegen, dass sie sich trotz modernster Materialien kaum wieder ausziehen lassen. So werden sie bei Olympiaden auch schon mal aufgeschnitten. Aus diesem Grund sind Ganzkörper-Anzüge, die Muskeln und Blutkreislauf anregen (eine Art Doping), im Wettkampf verboten.
Sportsgeist!
In der ehemaligen Turnhalle sind auf dem Boden die typisch gelb-schwarzen Spielfeldlinien gezogen, mit dem Anstoßkreis in der Mitte. In dem aufwändig restaurierten Raum des Museums wurden noch in den 30er Jahren die Menschen erzogen, wie es hieß, da die Stadt zu viele negative Einflüsse habe. Man war der Meinung, dass körperliche Bewegungsfreiheit auch den geistigen Horizont erweitere. Es dauerte, bis auch elastische Materialien die gesellschaftlichen Konventionen lockerten.
Heute haben wir beides: Nacktheit und Totalverschleierung (mit all den Diskussionen um Bikini oder Burkini). Und wir haben den Trainingsanzug zu feierlichen Anlässen. Joschka Fischer trug ja 1985 bei seiner Vereidigung als hessischer Umweltminister Jeans und Turnschuhe. Damals noch ein Affront. Nicht lange her, da hörten wir den Modeschöpfer Karl Lagerfeld sagen: "Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren." Aber das ist auch schon wieder Vergangenheit. Nur ein Jahr später trifft Fidel Castro den Papst Franziskus und trägt Adidas.
Ein gewollter Tabubruch?
2014 ist die Jogginghose dann in der Haute Couture von Chanel angekommen. Man nennt diesen Trend jetzt "Athleisure".
Es ist wunderbar, welch unterschiedliche Sportkostüme zusammengetragen wurden, und erst die sehr innovativen Schnitte! Es scheint, dass in der Sportindustrie jetzt mehr gewagt wird; frech kombinierte Farben, modernstes Recycling, völlig unkonventionelle Ideen geben dem Träger einen casual Look.
All das ist zwischen weißen Trainingsbänken und Turnböcken drapiert, vom Spitzenkleid der frühesten Turnstunde bis zum asymmetrischen Egobooster. Altersgerechte Dresscodes und Geschlechtertrennung scheinen aufgehoben; Mode oder Sportkleidung ist nicht mehr die Frage.
Baseballcap und Herrenanzug, Jogginghose und Highheals, Leggings und Baseball-Oversize kaschieren jetzt die ständige Unzufriedenheit der westlichen Welt mit ihrem Körper. Selbstoptimierung bis hin zur Körpertransformation passiert mit im Stoff integriertem EMS-System, um Muskeln elektrisch zu stimulieren, gekoppelt mit dem Smartphone werden Körperdaten gesammelt und ausgewertet. Alles unter Kontrolle!
Kleidung ist weit mehr als Schutz, es ist ein Statement!
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Insgesamt eine gute Inszenierung. In sports/no sports sind mehr als 110 Kleidungsstücke, Fotografien und Filme aus über 200 Jahren Mode und Sportswear zu sehen. Kuratiert hatte Angelika Riley. Und es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm.
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Die Avantgarde der Modedesigner hinterfragt das zeitgenössische Körperideal | Foto (C) Liane Kampeter
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Liane Kampeter - 2. September 2016 ID 9515
Weitere Infos siehe auch: http://www.mkg-hamburg.de
Post an Liane Kampeter
http://www.liane-kampeter.de
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