"Ich bin ein
Anderer"
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Tilmann Lahme kurz vor der Lesung in der Bonner Thalia-Buchhandlung | Foto © Ansgar Skoda
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Nein, er war kein dramatischer Dichter, wie er von seiner Nanny schon in jungen Jahren gerne genannt werden wollte. Es sind heute keine bekannten lyrischen Werke oder Dramen von Thomas Mann überliefert. Er wurde berühmt für seine Prosa, große Frauenfiguren der Weltliteratur hat er nicht geschaffen. Erstaunlich interessant wird es jedoch oft, wenn er das Begehren aus weiblicher Perspektive schildert, das er womöglich auch selbst erlebte. In seiner Lesung erzählt der Literaturhistoriker Tilmann Lahme vom Glanz und der Qual in Paul Thomas Manns Leben (1875-1955) und diskrete Masken und Heimlichkeiten.
Anlässlich des 150. Geburtstages von Thomas Mann (Literaturnobelpreisträger 1929) schaffte es die Biografie Thomas Mann – Ein Leben mehrere Wochen auf die Bestseller-Listen. Durch bisher unveröffentlichte Briefe und Tagebucheinträge von Thomas Mann wirft sie einen neuen Blick auf den Schriftsteller.
Lahme, Autor der Biografie meint beiläufig vor der Lesung, angesprochen auf den Bestseller Thomas Mann macht Ferien, er habe Kerstin Holzers etwa zeitgleich erschienenes Werk gerne gelesen, die Beziehung zwischen Katia & Thomas sei jedoch problematischer und weniger harmonisch gewesen als von ihr geschildert.
Lahmes 592 Seiten umfassende Biografie besticht - anders als bei Holzers Erzählung - durch eine Vielzahl an Fotos sowie abgedruckten, bisher unveröffentlichten Briefen von Thomas Mann als auch interessanten Schriften von Zeitzeugen, so etwa von Susan Sontag.
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Etwa fünfzig Besucher sind im festlich überkuppelten Vorführsaal des ehemaligen Metropol-Kinos versammelt. Laura Mühlichen, stellvertretende Leiterin der Bonner Filiale der Thalia Bücher GmbH, stellt die Räumlichkeiten des Kuppelsaals im vierten Stock der Buchhandlung und den Redner kurz vor. Tilmann Lahme, ehemaliger Literaturprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg, promovierte 2007 über Golo Mann, Thomas zweitgeborenen Sohn. Der Literaturhistoriker schrieb 2015 und 2016 Werke über die Familie Mann und die Briefe der Manns aus deren Nachlass.
Lahme konnte sich nach eigener Aussage zuerst nicht vorstellen, eine Biographie zu Thomas Mann zu schreiben. Zu dem berühmten Autor sei bereits intensiv geforscht worden, und es gebe bereits etwa 37 Biographien, einschließlich der autobiografischen Schriften. Lahme sei auf die Familie Mann aufmerksam geworden, weil er Schriften des Historikers und Publizisten Golo Mann, die er für sein Studium las, erstaunlich unterhaltsam fand. Lahme bezieht sich auf einen Ausspruch von Marcel Reich-Ranicki, der auf das labyrinthische Schriftstellertum der Familie Mann zu sprechen kommt: die Manns seien die Windsors der Deutschen, bloß herausfordernder. Alle Kinder von Thomas & Katia hätten geschrieben, sogar eigene Autobiografien.
Gerade bei Klaus, dem ältesten Sohn, sei in Kind dieser Zeit (1932) ein Spiel mit dem Genre und eine Lust der Selbstinszenierung spürbar. Der Umgang mit der Wahrheit sei dabei bemerkenswert, die Hälfte stimme oft nicht bei autobiographischen Schriften der talentierten Familie. Es werde etwas zugegeben und gleichzeitig etwas verdeckt. Auch das mache einen gewissen Reiz aus. Ausschließlich Katia, Thomas Ehefrau, sei diskret und ohne schriftstellerische Ambitionen gewesen. Anekdotenreich und spannend ist Lahmes Vortrag, den er nur für drei kurze Auszüge aus seiner Biografie unterbricht.
Zu Beginn der 1970er Jahre war Thomas Mann als "literarische Bügelfalte", wie Robert Musil seinen bedeutenden, jedoch distanziert und formell auftretenden Kollegen einmal nannte, in der Literaturwissenschaft in gewisser Hinsicht ad acta gelegt. Dies änderte sich mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher. Es waren einige auffällige Kürzungen darin, die Lahme irritierten und zu seiner Monografie bewegten, nachdem er die Originale der Tagebücher in Lübeck einsehen konnte. Die gekürzten Einträge waren meist sexueller Natur. So habe Thomas seine homosexuellen Neigungen eben nicht nur, wie in der Forschung oft angenommen, in seiner Literatur sublimiert und dadurch erhöht. Er nahm auch regelmäßig starke Medikamente, wie Phanodorm, um zur Ruhe zu kommen. In seinen Tagebüchern beschreibt Mann vielfach die „Hermes-Beine“ von Kellnern oder anderer flüchtiger männlicher Begegnungen.
Lahme beginnt seine Lesung mit einer Erzählung aus Thomas Manns Jugend 1889 in Lübeck. Im Alter von 14 Jahren schreibt der mehrfach sitzengebliebene Kaufmannssohn ein Liebesgedicht an den jüngeren Mitschüler Armin Martens. Nach einer herben Demütigung durch den Auserkorenen wird sich Thomas Mann nie wieder so offenkundig verhalten. Thomas wendet sich an seinen großen Bruder Heinrich, der jedoch auch keinen anderen Rat als einen Bordellbesuch weiß. Bei einem anderen künftigen Schwarm in der Schule leiht sich Thomas bloß einen Bleistift, den er anspitzt, um ihm diesen zeitnah wiederzugeben. Thomas hebt die Holzspäne und den Graphitstaub vom Anspitzen auf und horcht in sich und sein intensives Gefühlserleben hinein. Er wird später diesen Mann und andere Männer, die er begehrt, als Figuren in seinen Werken anlegen. Die Bleistift-Geschichte lässt Thomas Mann so in Der Zauberberg einfließen, wenn der junge Protagonist Hans Castorp sich in der Höhenluft von Davos auch scheu von einer Angebeteten einen Bleistift erbittet. Der in der Literaturkritik als Phallussymbol gedeutete Bleistift war sodann ein Zankapfel, als Der Zauberberg von Hollywood mit Stars wie Greta Garbo verfilmt werden sollte, so Lahme. Thomas stritt unter anderem um dieses Detail, es kam nicht zu der Verfilmung.
Tilmann Lahme hebt die Bedeutung des ebenfalls homosexuellen Otto Nikolas Grautoff in seiner Biografie hervor, Thomas’ Klassenkamerad in der gemeinsamen Schulzeit. Beide waren zeitlebens befreundet. Thomas verbrannte sämtliche Briefe von Grautoff, wie auch sonst viele nicht zur Veröffentlichung gekommene oder bestimmte Werke. Lahme veröffentlichte nun erstmals Briefe von Thomas Mann an Grauthoff, in denen es um den Umgang mit schwulen Neigungen geht. Beide tauschten sich wegen ihrer homoerotischen Neigungen über das damals auf Beobachtungsstudien basierende wissenschaftliche Standardwerk Psychopathia sexualis (1886) aus. Hier wird männliche Homosexualität als „konträre Sexualität“ mit degenerativen Hirnerkrankungen und Masturbation in Zusammenhang gebracht. Lahme deutet Thomas Mann als homophoben Homosexuellen, wenn dieser Grautoff in seinem Weg hin zur Ehe bestärkt und vor der damals entstehenden schwulen Szene in Berlin warnt.
Lahme widmet einen Schwerpunkt der Lesung den Jugendjahren von Thomas Mann. Schon im Alter von fünfzehn Jahren wollte Thomas vor allem ein Autor sein und schickte frühe Werke an Zeitungen und Verlage. Thomas erhielt nach dem Tod seines Vaters, der 1891 an Blasenkrebs starb, ein monatliches Auskommen. Er lernte 1899 in München den 23jährigen Maler Paul Ehrenberg kennen, mit dem er eine enge Freundschaft aufbaut. Als Thomas 1905 die schwer vermögende Katia Pringsheim heiratete, endete die Freundschaft. Tilmann Lahme findet es bezeichnend, dass Thomas dann auch seine Brieffreundschaft mit der Malerin Agnes Meyer beendete. Hier habe Thomas wohl einen Plan B. für eine mögliche Ehebindung verfolgt, so Lahme. Seinen Junggesellenabschied feierte Thomas alleine mit Otto Grautoff. Auch die Hochzeit selbst wurde nur im kleinen Kreis standesamtlich vollzogen und es ist kein Hochzeitsfoto überliefert. Katias Zwillingsbruder Klaus, der selbst schwul war, ermutigte sie zu der Ehe mit Thomas. Katias Eltern statten die Jungvermählten großzügig mit einem eigenen Heim aus, in dem es für das junge Glück auch getrennte Schlafzimmer gibt.
Katia hatte neben Klaus noch drei andere Brüder. Im Hause der Pringsheims wurde der sehr stille und wenig pointierte Thomas voller Spottlust anfangs der „leberleidende Rittmeister“ genannt, so Lahme. Den Besuchern, die ein Gespür für den Sound voller flirrender Dialoge im Hause der Pringsheims erleben wollen, empfiehlt Lahme die Erzählung Wälsungenblut (1906), für die Thomas Antisemitismus vorgeworfen wurde. Eine Besucherin fragt Lahme gegen Ende, ob er Thomas Mann eigentlich sympathisch gefunden hätte. Er überlegt und meint, dass er am schillernden Autor den grausam bewertenden Umgang mit seinen Kindern und die Entmutigung von Grautoff, das homosexuelle Begehren leben zu können, unsympathisch finde. Der Literaturhistoriker entlässt die Besucher der Lesung mit einer erfrischenden Anekdote über Thomas älteste Tochter Erika. Diese erfand eine ganze Reihe an Personen, um sich mit Briefen ebenso erfolgreich wie perfide an einer Nebenbuhlerin um einen charismatischen Liebhaber zu rächen.
Tilmann Lahme bereichert mit seiner Biografie das Thomas Mann-Jahr um eine neue, erhellende und mitunter auch erheiternde Perspektive auf den wohl bedeutendsten Erzähler des 20. Jahrhunderts und Zauberer, wie seine Kinder ihn nannten.
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Ansgar Skoda - 12. September 2025 ID 15459
dtv-Link zu Tilmann Lahmes Buch über Thomas Mann
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