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Jubiläums-Lesung in der Niedersächsischen Landesvertretung

Kleinwütig

Arno Schmidt (1914-1979) wollte Worte wie Hunde auf die Leute hetzen


Jan Philipp Reemtsma liest aus Arno Schmidts Das steinerne Herz - Foto (C) Jamal Tuschick


Der Hausherr nennt Arno Schmidt „eine Ehrensache Niedersachsens“. Die Landesvertretung zwitschert wie eine überfüllte Voliere, gleich liest Jan Philipp Reemtsma im Foyer der Dependance aus Das steinerne Herz. Später soll es eine Mahlzeit aufs Haus Hannover geben. Solche Wohltaten behalten was Feudales, diese delikaten Kartoffelsuppen. Soll keiner glauben, es hätten alle genug, um nur für die Kunst da zu sein. Klar ginge es ohne Suppe als Nachschlag zu einem Jubiläum, Schmidt wurde vor hundert Jahren geboren, aber schöner ist mit.

„Mein Herz gehört dem Kopf“, sagte Schmidt. Er wollte ein Bild der Zeit hinterlassen, die ihn übersehen hat. Seine poetischen Verfahren erzeugten Unmittelbarkeit mit einem triftigen, protestantisch-pedantischen Ton. Schmidt fragte, warum man andere „nicht direkt an das eigene Gehirn anschließen kann“. Kommt noch, möchte man ihm nachrufen. Wahrscheinlich geht das längst.

Schmidt entlarvte die sogenannte Stunde Null als Fiktion zum Zeitpunkt ihrer Stunde. Das machte ihn zum Visionär in seiner Laube. Der ewige Vorgärtner widmete sich der Erforschung des Hauses Hannover im Untergang. Das Steinerne Herz spielt in beiden deutschen Staaten, als einer frühen Anerkennung dieser Realität. Ich glaube, sie brachte dem Autor eine Anzeige wegen Pornografie ein.

Schmidt schildert die kleinwütige Atmosphäre der fünfziger Jahre. Das war sein Jahrzehnt, Schmidt im Widerstand gegen das Wirtschaftswunder und den Speck des Vergessens.

„Steige fein aus dem Wagen, und laß dir Haus und Garten aufschließen, vorgebend, du hättest den verstorbenen Eigentümer des anmutigen Landsitzes, den Hofrat Reutlinger, recht gut gekannt.“ (E.T.A. Hoffmann, Das steinerne Herz)

Das Steinerne Herz. Ein historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi – Der Titel beansprucht Wilhelm Hauff und E.T.A. Hoffmann. Er erinnert an einen, der garantiert immer bei Kasse sein wollte. Auf der Suche nach einem Nachlass quartiert sich Walter Eggers bei Nachkommen des Statistikers Curt Heinrich Conrad Friedrich Jansen ein. In seiner Angelegenheit reist Eggers mit dem Lastwagenfahrer Karl weiter nach Ostberlin. Die Männer sammeln Karls Geliebte Line ein und schaffen sie aus der Zone.

Eggers ist ein kalter Sammler. Die DDR betrachtet er unvoreingenommen. Der Volkswagen fährt als „flottes Vehikel“ durch die Landschaft. Line bleibt „wie aus blassem Packpapier geschnitten“.

„Die Windhunde haben Konjunktur.“ Die Bundesrepublik steht kurz vor der Wiederbewaffnung, sie schreibt die deutsche Teilung fest. Am liebsten würde Eggers über den Staatsbüchern Hannovers vertrocknen. Angesichts der Mordlust im Menschen. Schmidts Skeptizismus konserviert die Vergangenheitsvergessenheit seiner Zeitgenossen. Die gewinnen den verlorenen Krieg doch noch an der Konsumfront. Sie haben nichts dazu gelernt, das können sie gar nicht. Das sieht die Gattung nicht vor. Eggers erscheint sich wie ein Alien.

Bei Schmidt golft der Blutstrom, der Lochmund bringt Silben hervor. Ein Pullover ist schamhaarig. Zähne sind hypergesund. Ein Busch bewegt sehr schön die Blätter. Schafe, gefällig wie auf dem Heidefoto. Die Rede ist von der Mondlage Berlins. Die Ostzone wird ausgekauft. An der Ostsee herrscht Gedränge.

Jan Philipp Reemtsma liest in einem abgeschlossenen Einfühlungsvorgang, er widmet sich Schmidt seit 1977. Im Grunde ist dieser Philologe und Mäzen die erstaunlichere Figur. Der Knatterkopf Schmidt organisierte seinerzeit einen Bildersturm für die gebildete Hausfrau. Er war eine Ein-Mann-Avantgarde. Der Hamburger Polizistensohn konnte Englisch und Mathematik. Das Programm wird mit der Zeit nicht größer.

Ich entdecke F.W. Bernstein. Er zeichnet Reemtsma. In seiner Nähe sitzt ein Dirigent mit Weltgeltung. Ich hebe die Kamera. Der Dirigent plustert sich auf wie ein Kolibri, während ich Bernstein fotografiere.

Schmidt erklärte Adenauers Bereitschaft den Osten sein zu lassen mit dem massiven Lutheraner-Aufkommen in der Zone. Dem Katholiken im Kanzleramt lebten zu viele Ketzer in Thüringen und Brandenburg. Schmidt rechnete den ersten deutschen Bundeskanzler zu den „altersfrechen“ Greisen Churchill und Stalin. Sein Held fährt durch „abgemusterte Idyllen“. Auf der Stalinallee in der Hauptstadt der DDR erinnert er an den abgelösten Namen Frankfurter Allee. So heißt die Magistrale nun wieder.




"Der Knatterkopf Schmidt organisierte seinerzeit einen Bildersturm für die gebildete Hausfrau. Er war eine Ein-Mann-Avantgarde." - Foto (C) Jamal Tuschick


Jamal Tuschick - 18. Januar 2014
ID 7526
Arno Schmidt | Das steinerne Herz
Taschenbuch
Preis € (D) 8,90 | € (A) 9,20 | SFR 13,50
Fischer Taschenbuchverlag
ISBN 978-3-596-29122-9


Weitere Infos siehe auch: http://www.fischerverlage.de/buch/das_steinerne_herz/9783596291229


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