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Feuilleton

Die Krise in der Ukraine war eines der politischen Themen auf der Leipziger Buchmesse




Plötzlich ganz nah

„Von Großbritannien aus gesehen wirkt Deutschland wie ein Paradies für Verleger und Leser, und die Leipziger Buchmesse bestätigt das“, meinte John Mitchinson vom Londoner Book-on-Demand-Verlag Unbound bei einer Diskussion über digitales Publizieren auf der Messe, und diese Bemerkung des mit typisch britischem Humor gesegneten Gastes war ausnahmsweise nicht ironisch gemeint. „In England wird der Buchmarkt inzwischen fast ausschließlich über den Preis gesteuert“, bedauerte Mitchinson, was immer weniger Experimente und Risiken erlaube, sodass er seine Projekte auf Bestellung realisiert, von denen der Autor bei einer ausreichend großen Zahl an zahlenden Lesern die Hälfte des Gewinns erhält. Ein großzügiges Entgelt, wenn man bedenkt, dass sonst nur maximal zehn bis zwölf Prozent an den Urheber gehen – allerdings tragen die auch mehr Risiko bei dieser Geschäftsvariante. Denn wenn on Demand kein Gewinn erzielt wird, gehen die Autoren eben leer aus. Glückliches Deutschland, so meinte Mitchinson, einem Land, in dem von einer Konzentration auf einige wenige Verlage, die den Markt beherrschen, nicht die Rede sein kann.




Typisch für die Leipziger Buchmesse: Die vielen offenen (Vor-)Leseecken, die zum Reinhören einladen - Foto (C) Max-Peter Heyne



Tatsächlich präsentierte sich die Leipziger Buchmesse wieder als außerordentlich lebendig und vielseitig wie das Leben selbst, dessen verschiedene Aspekte sich in den Büchern wiederspiegeln. Die unkomplizierte und unmittelbare Begegnung zwischen Autor, Verleger und Leserschaft macht während eines Rundganges den besonderen Reiz der Leipziger Buchmesse aus. Zu einer merklichen Entspannung in Sachen Gedränge trug die sinnvolle Entscheidung der Messeleitung bei, den bei vielen Jugendlichen außerordentlich beliebten Japan-Comic-Bereich in eine eigene, große Halle auszulagern. Nachdem dieser Bereich der Messe eher geduldet als gefördert wurde, aber immer rasanter angewachsen ist, hat man die Bruttofläche der Leipziger Buchmesse um satte 15.500 auf nun insgesamt 84.500 Quadratmeter vergrößert. So können die 167 Aussteller von Comics und Fanartikeln ihre Angebote angemessen präsentieren und die farbenfroh und schrill gekleideten Fans japanischer Comic-, Musik und Filmkultur auf der neu geschaffenen Manga-Comic-Convention (MCC) ohne Platzprobleme ihre Kostümwettbewerbe abhalten.

Für viele kleine oder hochspezialisierte Verlage – darunter auch etliche Sachbuchverlage – ist die Leipziger Buchmesse nach wie vor eine gute Gelegenheit, viele Menschen auf ihre Angebote überhaupt einmal aufmerksam zu machen. „Wir können in Leipzig fast alle unsere Titel auslegen und mit interessierten Lesern schnell in direkten Kontakt kommen“, sagt eine Mitarbeiterin des Bayerischen Ketteler-Verlags, der sich auf Sachbücher zum Arbeitsrecht in der katholischen Kirche spezialisiert hat und zum Kreis jener Spezialverlage zählt, die auf dem teuren und überbordenden Frankfurter Pendant erst gar nicht vertreten sind. Neben brandaktuellen Themen wie der unsicheren Lage in der Ukraine traten historische Themenschwerpunkte wie der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges fast ein wenig in den Hintergrund.

Osteuropäische Autoren und Intellektuelle gaben zu, dass trotz des Jubiläums der Erste Weltkrieg als Teil eines von ideologischen Kämpfen zerrissen 20. Jahrhunderts in ihren Heimatländern eine untergeordnete Rolle spielt. Wie die aktuellen Ereignisse zeigten, seien die Folgen des Zweiten Weltkrieges und der langen Dominanz des sowjetischen Reiches noch nicht überwunden und daher im Bewusstsein der osteuropäischen Menschen deutlich präsenter als die wesentlich westeuropäisch geprägten Machtgerangel, die vor hundert Jahren in einem Krieg kulminierten, meinte der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak. Dabei sei es ausgerechnet die Ukraine gewesen, die wegen ihrer Rohstoffe und ihrer fruchtbaren Landwirtschaft im Zentrum kriegerische Auseinandersetzungen zwischen 1914-1918 stand und auf allen Seiten – Deutschlands und Österreich-Ungarns wie auch der Westmächte und dem russischen Zarenreich – mitgekämpft hat. Insofern markiere 1914 eigentlich die Geburtsstunde der ukrainischen Nation und ihrer Identität, so Hrytsak.

Ausgerechnet die Menschen am östlichen Rand Europas erinnern die Europa-müden Westeuropäer derzeit daran, dass für Demokratie und zivile Bürgerrechte notfalls energisch gekämpft werden müsse, stellte die polnische Journalistin und Soziologin Karolina Wigura auf der Leipziger Buchmesse fest. Aufgrund ihrer eigenen jüngsten Geschichte empfänden die Polen besondere Solidarität mit den protestierenden Massen in der Ukraine, so Wigura. Doch es gebe einen Unterschied zur freien polnischen Gewerkschaft Solidarnosc der 1980er Jahre: Die heutige ukrainische Bürgerrechtsbewegung werde von der jungen Generation angeschoben, die sich hauptsächlich über die sozialen Netzwerke im Internet verständige und koordiniere und daher eher mit den Protesten in der arabischen Welt und der Türkei verglichen werden müsse, meinte Wigura, die selbst Mitbegründerin einer Internetzeitschrift ist (Kultura liberalna). Der ukrainische Philosoph und Kulturwissenschaftler Vasyl Cherepanyn (33) wies auf demselben Podium darauf hin, dass die Proteste sich nicht nur an der Ablehnung eines EU-Vertrages durch die vorige Regierung entzündet hätten, sondern an der Bevormundung und dem Mangel an Würde, den die Bürger jahrelang erdulden mussten.




Kurioses am Rande: Ein Aktionskünstler zieht feine Linien - Foto (C) Max-Peter Heyne



Die 50-plus-Generation der osteuropäischen Intellektuellen drückten ihre Befürchtungen vor einem Scheitern der ukrainischen Revolution noch drastischer aus und warnten vor „allzu großer Naivität“ gegenüber Russlands Präsidenten Putin. Dessen geopolitisches Machtstreben trage diktatorische Züge, schüre aber immerhin so viel ukrainischen Patriotismus, dass die Spaltung seines Heimatlandes in einen östlichen, russlandfreundlichen und einen der EU zugewandten, westlichen Teil keine attraktive Alternative für seine Landsleute und insofern kaum erwarten sei, meinte der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Juri Andruchowytsch (54). Er und sein ebenfalls um die Annäherung an den Westen kämpfende, belarussischer Kollege, der Herausgeber und Autor, Artur Klinau, bemängelten eine klischeehafte Darstellung der osteuropäischen Länder in westliche Medien. Diese sei bedauerlich, weil der Austausch mit der westlichen Öffentlichkeit z.B. via Internet für die ukrainischen und belarussischen Bürger und Künstler von großer Bedeutung sei. Nicht umsonst würden Websites, die wegen ihrer Mehrsprachigkeit oder ihrer politischen Inhalte eine Brückenfunktion zwischen Autorinnen und Autoren in Ost und West übernehmen (darunter das Autorenportal http://www.booksfrombelarus.net), immer wieder von den jeweiligen Regierungen verboten oder abgeschaltet. Klinaus jüngere Kollegin Marija Martysevych wies darauf hin, dass sogar die staatlich reglementierte Berichterstattung über die Maidan-Proteste in den belarussischen Massenmedien sich immer stärker ausdifferenziere und nicht mehr nur aus Lügen bestünde.

Dank des zum dritten und vorläufig letzten Mal vom österreichischen Autor und Übersetzer Martin Pollack kuratierten Programmschwerpunkts „tranzyt“, bei der 40 Autoren aus Polen, der Ukraine und Belarus vorgestellt werden, rücken die dramatischen Ereignisse in der Ukraine ganz nah auf die Leipziger Buchmesse, die traditionell eine Brückenfunktion zwischen Ost und West, Nord und Süd erfüllt. Auch beim Netzwerk „Traduki“ steht die Literatur Mittel-, Ost- und Südeuropas im Mittelpunkt, soll der Austausch zwischen Autoren und Übersetzern aus dem deutschsprachigen und südosteuropäischen Raum gefördert werden. Während der Messetage lesen insgesamt 125 Autoren des Netzwerkes innerhalb des größten europäischen Lesefestivals, „Leipzig liest“, das an 410 Leseorten über die gesamte sächsische Kulturmetropole verteilt ist. „Der deutsche Buchmarkt ist für die Länder Südosteuropas sehr wichtig. Mit der Leipziger Buchmesse geben wir noch weitgehend unbekannter Literatur eine Bühne“, erklärt Messedirektor Oliver Zille. Weitere traditionelle Schwerpunkte in Leipzig sind lesepädagogische Konferenzen – 2014 erstmals der Deutsche Lehrertag – sowie die Kinder- und Jugendliteratur.




Comic-Forum auf der Leipziger Buchmesse - Foto (C) Max-Peter Heyne



Bilderbücher, soviel steht fest, werden von E-Books nie ganz ersetzt werden können. Aber wie steht es um die Zukunft des gedruckten Buches und der damit zusammenhängenden Lesekultur sonst? Auf der Leipziger Buchmesse fanden bereits viele Fachkonferenzen und Podiumsdiskussionen dazu statt. Freundlich, aber lebhaft wurde über den Aufsatzsammelband Bücherdämmerung des Herausgebers und Berliner Publizisten Detlef Bluhm debattiert (Verlag Lambert Schneider, 160 S., 19,95 €), in dem Autoren die Zukunft des hybriden Buches beschreiben: Künftig wird es neben dem Originaltext verstärkt diverse E-Book- oder Mobilgeräte-Ausgaben geben, die vereinfachte, verkürzte, modernisierte bzw. dem zeitgenössischen Sprachduktus angepasste Varianten sein werden. Diese zurechtgebogenen Kopien stellen für Kritiker solcher Verfügbarkeit einer geistigen Idee eine radikale Entweihung der Aura des Originals im Benjaminischen Sinne dar, andere wiederum begrüßen die neuen, spielerischen Möglichkeiten, sperrige Texte neugierigen Lesern als verständliche Digitalversion anbieten zu können.

So gab der Autor Stephan Selle zu bedenken, dass es bei Immanuel Kants Vernunft-Philosophien „Sätze gibt, die zu lesen fünf Minuten dauert“. Bei solchen Gedankengängen böte es sich geradezu an, sie als E-Book einfacher zu schreiben, so Selle, der darauf hinwies, dass die Textversionen sich an den unterschiedlichen Zielen bei Lesern orientieren können, also nicht nur für den Kunstgenuss, sondern manchmal auch für den Wunsch nach schneller Information. Selles Kollegin Elisabeth Ruge rief die Verleger dazu auf, dass Thema E-Books nicht immer defensiv und „mit zusammengebissenen Zähnen“ anzugehen. Sie plädierte dafür, gedruckte Bücher wieder prächtiger und aufwendiger zu produzieren, um deren Wert hervor zu streichen.


Max-Peter Heyne - 20. März 2014
ID 7691
Weitere Infos siehe auch: http://www.leipziger-buchmesse.de/


Post an Max-Peter Heyne



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