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Buchkritik

Ein dystopischer

Spaß



Bewertung:    



"Moment, halt, stopp! Dass das gleich mal klar ist, mes amis: Bitte keine Verachtung. Und kein Mitleid. Eure tränenreiche Anteilnahme könnt ihr euch sparen. Ich bin kein Drogenabhängiger."


Mit diesen Worten berichtet einer der beiden Erzähler im Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung aus der Provinzmetropole Minsk von seiner Liebe zur namensgebenden Droge Mova. Viktor Martinowitschs neues Buch ist eine kluge Parabel auf die politischen Verhältnisse in Weißrussland. Die Handlung in eine ferne Zukunft zu verlegen, war ein logischer Schachzug, um nicht zu offensichtlich die Gegenwart zu kritisieren. Dennoch sind Martinowitsch’s Bücher in Weißrussland verboten.

Im Erstling Paranoia beschrieb er bereits das eingeengte Lebensgefühl in seiner Heimat und die Allgegenwart des Geheimdienstes, die seine Protagonisten an den Rand des Wahnsinns trieben. In Mova scheinen sich die Figuren mit dem Leben im Geheimen abgefunden zu haben und nutzen routiniert jedes Schlupfloch. Um der Apathie des Alltags zu entkommen, konsumieren sie eine Droge, indem kleine Zettelchen mit Lyrik gelesen werden, die sich anschließend selbst zerstören. Die Zettelchen sind natürlich illegal und nur eine kleine Minderheit hat überhaupt Zugang zu den Quelltexten, die von kultisch verehrten Eingeweihten in Ritualen zu Mova verarbeitet werden. Wie man sich von Literatur berauschen lassen kann und mit ihr für eine Weile der Realität entkommt, beschreibt Martinowitsch eigenwillig und spannend.

Seine Sätze sind von unverwechselbarer Intensität. Man mag nicht jede Ansicht teilen, die die beiden unterschiedlichen Erzähler in ihren inneren Monologen von sich geben, aber sie sind glaubhaft und realitätsnah. Berauschend ist die Magie der Sprache, mit der Martinowitsch uns in eine doppelt fremde Welt mitnimmt: Das gegenwärtige Weißrussland einerseits und die Dystopie im chinesisch-russischen Megastaat anderseits. So trifft man Fremdes und Vertrautes gleichermaßen und wird trotz (oder gerade wegen) des "fancy Slang's", der an den Klassiker Neuromancer erinnert, reibungslos und smooth durch die Geschichte geleitet. Diese Zukunft ist die Gegenwart der anderen, in der wir die tägliche Ironie junger Menschen im ehemaligen Ostblock erkennen können. Sie flüchten sich in kryptische Texte, die in ihnen exstatisch-euphorische Zustände auslösen und sie in fernen belarussischen Erinnungen schwelgen lassen – der einizige Gegenpart zur stumpfen, eintönigen Alltagsprosa des Regimes.

*

Anklänge an russische Science-Fiction-Klassiker und Autorengrößen der Gegenwart wie Vladimir Sorokin oder Dmitry Glukhovski fehlen nicht. Man ahnt, dass dem Autor womöglich Sorokins geniale Erzählung Der Dostojevski-Trip gefallen hat. Darin nehmen ein paar junge Leute einen Gruppen-LSD-Trip, der sie als Protagonisten in die Welt von Dostojevski’s Der Idiot katapultiert. Jeder ist so verbissen in seiner Rolle, dass sie sich gegenseitig zu überbieten versuchen und schließlich jeder auf seine eigene wahnhafte, egozentrische Weise die Welt zu retten versucht. Mit Mova ist es auch eine Droge, die die Geschichte bestimmt. Doch sie zeigt im Gegensatz zu Sorokin’s Tour de force durch die Literaturgeschichte einen moderaten Weg: Sich der Realität zu entziehen und gleichzeitig etwas Verlorenes wiederzufinden. Ein paar Worte auf Papier gekritzelt können größtes Glück bedeuten. Erst recht, wenn sie zu einer Schnitzeljagd werden, in deren Verlauf sich ungeahnte Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung ergeben.

In Mova ist man der Macht der Wörter auf der Spur durch regennasse Straßen, laute Bars und Gedanken-Flashs, immer auf der Flucht vor den Zwängen des totalitären Doppelstaates und der gähnenden Leere grauer Plattenbausiedlungen. Neo-Popkultur trifft hier Gesellschaftskritik und das Ganze macht Spaß wie ein Solikonzert, auf dem man unverhofft alte Bekannte trifft und wo sich, wie manches Mal im Nachtleben, Überzeugungen und Rauschzustände zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Na sdorowje!
August Werner - 9. März 2017 (2)
ID 9899
Viktor Martinowitsch | Mova
Geb., 400 S.
EUR 25.00
Verlag Voland & Quist, 2016
ISBN 978-3-863911-43-0


https://www.voland-quist.de/buch/?246/Mova--Viktor+Martinowitsch


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