Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 2

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Roman

Innenansichten

einer gestörten

Frau



Bewertung:    



Es passiert eigentlich nicht viel in dem Roman von Satu Taskinen, und trotzdem kann man ihn kaum aus der Hand legen. Tea, die Protagonistin, geht zur Beerdigung ihrer jüngeren Schwester Kerstin. Noch während des anschließenden Familientreffens kehrt sie überanstrengt heim in ihre vermüllte Wohnung, um sich kurz darauf von ihrem Sohn Mark wieder zurück zur Trauergesellschaft bringen zu lassen. Die besteht gegen Ende der Feierlichkeiten nur noch aus den engsten Familienmitgliedern: Teas Geschwistern, ihrem geschiedenen Mann Simon, ihrem Sohn Mark und ihrer weitgehend bettlägerige Mutter Ilse.

Ilse ist die schauerlichste Gestalt in diesem Reigen, sie siezt ihre Tochter Tea seit Jahren, schreit und brüllt aus ihrem Schlafzimmer heraus und droht in ungezügelter Aggressivität damit die Köpfe ihrer Kinder abzubeißen. Teas Bruder Leo ist dagegen „nur“ spielsüchtig, und ihre Schwester Bea versucht mit Arbeits- und Organisationswut die bizarren Familienverhältnisse zu übertünchen, um Normalität aufkommen lassen.

Auch Tea, die Ich-Erzählerin, ist gestört. Sie lebt als Messie in Wien und häuft Gegenstände in ihrer Wohnung an. Eigentlich will sie Müll vermeiden, was ihr aber nicht gelingt. Stattdessen schafft sie sich aus Kisten und Zeitungsstapeln, Joghurtbecherpyramiden und Plastikkontainern ein Labyrinth mit schwer begehbaren Pfaden und Wegen. Tea reflektiert selbst darüber, wie ihr die Übersicht in ihrer Wohnung verloren geht und sie nicht mehr weiß, was sich in den jeweiligen Kisten dort befindet. Wenn sie betäubt von Schmerzmitteln in ihrer Lethargie dann doch einmal einen Karton öffnet, stößt sie auf eigenartige Dinge, wie etwa auf eine Handarbeit ihrer gerade verstorbenen Schwester Kerstin.


"Ich will die Sachen gerade aus dem Kasten nehmen, als ich begreife, dass die Farbflecke auf den mit Zucker gestärkten Kerstin-Kreationen keine Verzierungen, sondern Maden sind.
Schert Euch zum Teufel, sage ich. Ich drücke den Deckel auf den Kasten, stecke diesen in eine Plastiktüte. Die Öffnung der Tüte verschließe ich mit Klebeband, stecke sie in eine zweite Tüte. Wohin jetzt damit, kann man das aus dem Fenster werfen? Nein, das geht nicht. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was dann geschehen würde. Ich gehe ins Bad und lasse Wasser in die Wanne laufen. Dann stecke ich das Paket ins Wasser und schütte sämtliches Chlor hinterher, das in der Einliterflasche noch übrig ist."
(S. 148)



So bleiben die Maden in der Wohnung, stinken und sterben vor sich hin - eine Gebrauchsanweisung zum Messietum, die zwar ekelerregend, aber auch bestürzend einfach nachvollziehbar wird.
Es ist faszinierend, wie Satu Taskinen die Gedanken ihrer Protagonistin niederschreibt. Die meisten dieser Gedanken sind alltäglich - wie sie vermutlich jeder von uns einmal denkt; Reflektionen über das Wetter, die entsprechende Kleidung, die zu tragen ist, die Familie des Nachbarn oder gesellschaftliche Ereignisse, die in der Zeitung stehen. Jeder Mensch, so weiß die gebildete Tea sich und dem Leser zu berichten, denkt am Tag ca. 60.000 solcher Gedanken, die meisten davon zum wiederholten Mal. Solche Fakten kommen überraschend, sind einladend und passen in den Ablauf des Buches, dem sich der Leser wie seinen eigenen Gedanken anschließen kann. Nur die Handlungen, die daraus resultieren, sind zutiefst verstörend.

Tea klaubt sich in einem Café den Kuchen vom Teller eines anderen Gastes und fühlt sich dabei seltsam lebendig. Zu verstehen - wenn überhaupt - ist ihr Verhalten bestenfalls vor dem familiären Hintergrund, dem Satu Taskinen auf der Beerdigungsfeier von Kerstin eine breite Bühne bietet. So erfahren wir viel über die extreme Lieblosigkeit innerhalb der Familie.
Der Schlüssel für all die Entgleisungen ist die Liebe, die es in dieser Familie nicht gibt und die Tea so schmerzlich vermisst. So projiziert sie ihre Sehnsucht in eine Kathedrale [Titel des Romanes ist: Die Kathedrale], den Stephansdom in Wien, den sie mit ihrem verstorbenen Vater oft besucht hat. Seine Geschichte, die Höhen und Tiefen dieser Kirche beschäftigen sie immer wieder in ihrer Gedankenwelt und werden für sie zum Symbol ihres eigenen gescheiterten Lebens.
Ellen Norten - 22. Dezember 2015
ID 9050
Satu Taskinen | Die Kathedrale
Gebunden, 312 Seiten,
EUR 22,95
Ebook EUR 12,99
Residenz Verlag, 2015
ISBN 978-3-7017-1652-4


Weitere Infos siehe auch: http://www.residenzverlag.com/?m=30&o=2&id_title=1784


Post an Dr. Ellen Norten



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeige:


LITERATUR Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUTORENLESUNGEN

BUCHKRITIKEN

DEBATTEN

ETYMOLOGISCHES
von Professor Gutknecht

INTERVIEWS

KURZGESCHICHTEN-
WETTBEWERB
[Archiv]

LESEN IM URLAUB

PORTRÄTS
Autoren, Bibliotheken, Verlage

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal





Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)