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Buchkritik

Kleine Dialektik

der Aufklärung



Bewertung:    



Vom Krieg heißt es bei Heraklit, er sei der Vater aller Dinge. Wenn das stimmt, läge in ihm nicht nur Zerstörung und Chaos, sondern auch Ordnung und Struktur. Aus alter Verwirrung entstünde neuer Sinn. Ein kontroverser Gedanke nur dann, wenn man seinen metaphorischen Charakter missversteht. Denn wer wollte so zynisch sein, den Krieg als ein heilsames Gewitter zu begreifen? Gemeint ist vielmehr jene Dialektik, von der Goethes Mephistopheles spricht: Die Kraft, die zwar das Böse will, doch stets das Gute schafft. Die Apokalypsen des zwanzigsten Jahrhunderts bieten genügend Raum für diesbezügliche Überlegungen.

In dem Roman Wir sehen uns dort oben von Pierre Lemaitre, der sich bisher vor allem als Autor von Kriminalromanen einen Namen gemacht hat, werden wir Zeuge der entfesselten Zerstörungswut des Ersten Weltkrieges. Familien werden auseinandergerissen, Menschen erniedrigt und verstümmelt, um danach, wenn alles wie durch ein Wunder überstanden ist, in die von der Nachkriegsgesellschaft verachtet und ausgespuckt zu werden. Auch für die beiden Kriegsheimkehrer Édouard Péricourt und Albert Maillard nimmt das große Leiden nach dem Krieg kein Ende. Nachdem sie ihre Gesundheit für die Nation ruiniert haben, verlieren sie im Paris der zwanziger Jahre um Haaresbreite ihre letzte Würde.

Im November 1918 führt der zynische Leutnant d'Aulnay-Pradelle im Frontabschnitt 113 seine Soldaten unter einem lächerlichen Vorwand in eine aussichtslose Schlacht, obwohl der Krieg gegen die Deutschen zu diesem Zeitpunkt längst gewonnen und alle Fronten beruhigt sind. Nach heftigen Gefechten und gewaltigen Detonationen ringt der Soldat Albert Maillard in einem Erdloch um sein Leben, über ihm eine meterhohe Schicht Lehm. In dieser Situation rettet ihm Edouard Péricourt, dessen Gesicht infolge einer Granate bald nur noch ein blutiger Fetzen aus Fleisch und Haut sein wird, heldenhaft das Leben und schaufelt den Totgeglaubten mit letzter Kraft frei. Albert wird für den Rest seines Lebens seinem entstellten Kameraden kompromisslos die Treue halten. Die beiden Soldaten überleben den Krieg voller Zorn auf eine verlogene Gesellschaft.

Dieser blinden Wut der beiden Kriegsheimkehrer folgt bald geschäftlicher Einfallsreichtum. Und damit beginnt ein intelligenter Schelmenroman. Die beiden verstümmelten und neurotischen Helden erkennen, dass die französische Gesellschaft zwar nichts von den Heimkehrern wissen will, dafür umso mehr Interesse für ihr toten Helden hegt. Ihre Geschäftsidee, ein tolldreister Betrug, gibt die Gedenkorgien der Grand Nation der Lächerlichkeit preis: Sie bieten den kleinen Gemeinden groteske Kriegsdenkmäler an, die sie indessen nie bauen werden, weil sie nach Zahlung des Vorschusses Reißaus nehmen.

Der Erzähler kommentiert diese Ereignisse in ironisch-beschwingtem Tonfall. Dabei führt er dem Leser die Absurdität der Erinnerungskultur und die gewaltsame Sentimentalität der französischen Nachkriegsgesellschaft schonungslos vor Augen. Ein gütiger Erzähler allemal, der die Bestialität der Menschennatur ohne Bitterkeit wie unter einem Mikroskop seziert. So gelingt Lemaitre mit diesem Roman die Quadratur des Kreises: Er berichtet vom Elend des Jahrhundertkrieges, von der unfassbaren Hoffnungslosigkeit der Zeit und vermag doch eine hinreißende Pikareske vorzulegen. Eine beachtliche Leistung. Am Ende liest man diese Geschichte voller bestialischer Grausamkeiten und menschlicher Abgründe mit einer verblüffenden Heiterkeit, die man sich zu Beginn der Lektüre nicht hätte vorstellen können.
Jo Balle - 23. Dezember 2014
ID 8339
Pierre Lemaitre | Wir sehen uns dort oben
521 S., geb. m. Schutzumschlag
EUR 22,95
Verlag Klett-Cotta, 2014
ISBN: 978-3-608-98016-5


Weitere Infos siehe auch: http://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Wir_sehen_uns_dort_oben/48873


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