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Buchkritik

Ohne Weg

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Hilf den anderen, dann ist dir selbst geholfen. Dieser Spruch entlarvt eine mögliche egoistische Komponente des Altruismus, der in Katja Lange-Müllers neuem Roman Drehtür eine interessante Rolle spielt. Ihre Protagonistin Asta hinterfragt, ob eine Selbstsorge im Rahmen der Sorge für andere möglich ist. Gedanklich rollt sie unter anderem ihre eigene Vergangenheit als Krankenschwester in Krisengebieten wieder auf. Asta steht am Münchener Flughaften, auf dem sie gerade von ihrem letzten Aufenthalt in Nicaragua zurückgekommen ist. Sie wurde nach zwanzig Jahren ausgemustert und erhielt als Abschiedsgeschenk ein One-Way-Ticket nach Deutschland. Auf dem Flughafen raucht sie Kette und beobachtet das eifrige Treiben ihrer Mitmenschen. Die Menschen um sie herum erinnern sie an frühere Bekanntschaften und gemeinsam geteilte Lebensstationen im Dienste internationaler Hilfsorganisationen. In ihren Erinnerungen geht es immer wieder um anderen gegenüber erbrachte Hilfe und daraus resultierende unvorhergesehene Verwicklungen. Eine Weiterreise rückt mehr und mehr in die Ferne.

Asta sinniert im Tonfall einer gemütlich-behäbigen Sprache über Vergangenes. Die Perspektive springt zwischen verschiedenen Zeitebenen, Erinnerungen, Erdachtem und Erträumtem. Zur gebrochenen Perspektive gesellt sich ein auffälliges Gespür für sprachliche Feinheiten wie Wortreihungen, Wortneuschöpfungen und Präzisierungen von Details. Das erzeugt gleichermaßen Spannung wie Entrückung vom Alltäglichen. So überlegt Asta, ob Helfen tatsächlich „geil“ ist, wie ihr einst eine Kollegin erklärte:


„Das Wort behagte mir nicht, obwohl es irgendwie zutrifft; helfen ist geil und macht geil: machtgeil. Zu helfen weckt ein seltsames Verlangen in dir, aber eines, das gestillt werden kann, so betörend, dass du es wieder tun willst und wieder und immer wieder. Es mag wohl auch tröstlich sein, und nicht nur für den Hilfsbedürftigen, doch mehr noch ist es eine Herausforderung, durchaus im sportlichen Sinne des Wortes. Wenn du zum Helfen berufen bist, ist es tröstlich und herausfordernd, jemandem zu begegnen, dem es schlechter geht als dir selbst, am besten viel schlechter.“ (S. 37)


Die 1951 in Ostberlin geborene Autorin Lange-Müller erforscht die Gedankenwelten ihrer Figuren; niemals trocken und immer mit spröder Leidenschaft für das Kleine, Unschöne und Unerwartete. Sie versucht, das Leben als ein Ganzes mit allen Ecken und Enden zu bebildern. Durch ungewöhnliche, sehr ausführliche Beschreibungen wird ein Raum für visuelle und akustische Assoziationen geschaffen:


„Krankenschwester, das Wort rührt von den ersten Krankenschwestern her, die ja generell Nonnen, also Ordensschwestern, gewesen waren, und es tönt, als wären sie alle, als wären wir Krankenschwestern alle, zumindest so lange wir unseren Beruf ausüben – wieder so ein dämliches Wort -, blutsverwandt mit allen Kranken, die es auf Erden gab, gibt und geben wird. Doch zu den Pflegern sagt niemand Krankenbrüder, obwohl deren Stammes- oder Standesväter ebenfalls dem einen oder anderen katholischen Orden dienten und bis heute dienen, wie etwa die Mönche im Nirmal Hriday; aber nicht einmal die, wenngleich sie sich untereinander sehr wohl Brüder nennen, erlauben das auch den Sterbenden. Und sterben müssen eines Tages selbst diese Nirmal-Hriday-Mönche; das muss jeder. Darin besteht unsere ganze, unsere einzige Verwandtschaft!“ (S. 102-103)


Asta liegt im Clinch mit ihrer Muttersprache, während sie über sich, über Freunde und Vergangenes nachdenkt. Eigenwillig und markant lassen die originell ineinander gewobenen Gedankengänge, mit denen neue Binnenerzählungen eingeleitet werden, einen gemächlichen Sog aufkommen, der den Leser immer wieder neu in seinen Bann zieht. Einiges wirkt pietätlos, anderes süffisant, das meiste stets originell. Im Roman kommen neben Asta auch andere Frauen zu Wort - wie ihre Bekannte Tamara Schröder. Schröder verhilft jungen Frauen, auf die in Indien Anschläge mit Kochbenzin verübt wurden, zu einer neuen Existenzgrundlage. Lebendig werden sehr unterschiedliche Schicksale und Erlebnisse ausgeschmückt, bevor ganz am Ende einzig und alleine eine Entscheidung Astas ansteht.
Ansgar Skoda - 1. November 2016
ID 9655
Katja Lange-Müller| Drehtür
224 S., geb.
€ 19,00 [D] I € 19,90 [A]
Kiepenheuer & Witsch, 2016
ISBN 978-3-462-04934-3


Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/drehtuer/978-3-462-04934-3/


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http://www.ansgar-skoda.de



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